Frühstücken in Immenstadt

Ich bin schon seit sechs Uhr wach, rief ein Mann, er legte Wurst  und Käse auf sein Teller. Um acht Uhr morgens war der Frühstücksraum der Pension in Immenstadt im Allgäu gut gefüllt,  Guten Morgen Good Morning war auf die Servietten gedruckt und  auch eine Sonne, über der Bar hingen weiße Papierherzen.  Möchtest du auch noch, rief der Mann seiner Frau zu, am Neben-
tisch weinte ein Kind und ein anderer Mann suchte die Rezeptionistin, die nicht zu sehen war. In der Speisekarte war zu lesen,  dass das Baujahr der Pension unbekannt sei, die Chronik begann  im Jahr 1805 mit dem Wiederaufbau des Hauses, das vierzig Jahre  später erneut abbrennen und aufgebaut werden sollte. Der Mann  brachte seiner Frau Marmelade mit, der Brotkorb war groß und gut
gefüllt, im Nebenraum wurde für ein Fest gedeckt, es war nicht  eindeutig zu erkennen, welches, aber es sah feierlich aus. Das  neunzehnte Jahrhundert begann mit dem Wiederaufbau, das zwanzigste mit neuen Eigentümern und der Eröffnung des  Lichtspielhauses 1922. Im März 2014 gab es das Kino nicht mehr,  und die Rezeptionistin kam mit einem Lächeln zurück, sie grüßte
freundlich. Der letzte Eintrag der Chronik widmete sich dem Jahr  1999, ich las: Renovierung und Umbau des gesamten Restaurantbereichs mit Verlegung der WC-Anlagen in den Keller. – fit für das
neue Jahrtausend –

Ich dachte über den Keller und das neue Jahrtausend nach, als ich  im Immenstädter Frühstücksraum saß, ich sah zwei Hotelgästen zu, wie sie bezahlten und die Frauen einstweilen nach oben auf  die Zimmer gingen, um zu packen. Wenn Sie sich die Beine  vertreten wollen, bitte schön, hatte der Schaffner am Vortag  durchgesagt, als der Zug fünfzehn Minuten in Hergatz hielt. Auf  der Fahrt hierher hatte ich ein großes Holzkreuz gesehen, das an  einem Wohnhaus befestigt war, außerdem: unter einem Baum mit Blick auf die Gleise einen roten Stuhl vor einem Müllcontainer,  weite Wiesen und unglaublich viele Solaranlagen. Wurstsalat mit  Brot (ab 14 Uhr) war in der Karte zu lesen, Schweizer Wurstsalat  mit Brot gab es ebenso erst nachmittags, die Allgäuer Käsezigarre war zeitlich nicht beschränkt. Gemeinsam war den Gerichten,  dass sie Teil der Monatskarte waren, und mit der Monatskarte  verhielt es sich im neuen Jahrtausend folgendermaßen: Wir sind  vor fast dreißig Jahren mit dem Gedanken angetreten, das ein oder  andere eben auch mal anders zu machen. (Etwas) anders zu  kochen, anders herzurichten, anderes zu servieren. Wir möchten  diesem Gedanken treu bleiben, es aber nicht übertreiben.

 

Anna Weidenholzer ist Autorin, lebt und arbeitet in Wien und Linz.

 

 

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