Martin und der Mantel

Luftzug, Literaturkolumne von Anna Weidenholzer

Die Autos halten weiterhin bei Rot an der Ampel, der Bus öffnet seine Türen, als ob nichts gewesen wäre, aber das hier ist jetzt ein schwarz-blaues Bundesland, regiert von einem Männerbund, müssten nicht zumindest die Bäume umgestürzt sein vor Schreck. Ich weiß nicht, wie oft ich in den vergangenen Wochen den Kopf geschüttelt habe, an manchen Tagen könnten es Stunden sein, um  all die Gespenster zu vertreiben, die nicht gehen, die jetzt in Regierungen heulen und weiter die Angst verbreiten, die unsere Gesellschaft zerfrisst. Die den Hass in die Mitte getragen haben, den Hass auf jene, deren Kinder in Schachteln kriechen, um sich gegen die Kälte zu schützen, auf jene, die im Freien übernachten und nicht in einem Einfamilienhaus sitzen, mit zugezogenen Vorhängen am Abend und ordentlichem Zaun herum.

Die Bäume stehen noch, als ich zum ersten Mal nach der Regierungsbildung in Linz aus dem Zug steige, sie werfen langsam ihre Blätter ab. Den Zwölfer nehmen, bis zur Haltestelle Wallseerstraße, den Berg hinauf. Im Kinderfreunde Kindergarten Keferfeld feierten wir viele Feste: Das Afrika- est, zu dem uns die Gesichter schwarz angemalt und Baströcke gebastelt wurden, das Pyjama-Fest, zu dem wir Schlafmützen trugen. Das allerliebste Fest war mir das Martinsfest, nicht wegen des Laternenumzuges, nein, wir führten vor unseren Eltern die Geschichte auf, wie Martin seinen Mantel teilt. Was für ein großartiges Geräusch und Gefühl es war, als er seinen Mantel mit dem Schwert durchschnitt und ihn dem frierenden Armen gab. Ob im Kinderfreunde Kindergarten Keferfeld ein Kind Jesus spielte, der Martin im Traum erscheint und ihn aufklärt, dass er der Arme war, das bestimmt. Welche Verkleidung das Kind trug und ob es auch folgenden Satz sagte, daran habe ich keine Erinnerung: «Was immer ihr einem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan» (Mt 25, 40).

Nächstenliebe also. Ich wünsche mir für diesen Herbst tausende Kindergartenkinder, die ihren Eltern vorspielen, wie Martin seinen Mantel teilt, wieder und wieder. Vor kurzem begegnete ich am Wiener Hauptbahnhof einem kleinen Mädchen, es lächelte mich an, als es darauf wartete, mit seinen Eltern die Straße zu überqueren, wir sicherten die Kreuzung für Flüchtlinge, die eine Sonderstraßenbahn zum Westbahnhof erreichen wollten. Bye, sagte es stolz und ließ mich die Wut auf den Mann im Geländewagen vergessen, der kurz zuvor mit Vollgas auf die Studentin neben mir zugefahren war, um nur wenige Zentimeter vor ihr hupend zu bremsen und uns anzuschreien. Er hatte eine Grünphase versäumt, aber in einem Geländewagen auf einen Menschen zurasen, es ist vieles neu in diesem Herbst.

Anna Weidenholzer ist Autorin, lebt und arbeitet in Wien und Linz.

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