Refugees-Welcome-Biketrip 2015

Mit dem Rad entlang der Flüchtlingsroute von Österreich nach Griechenland. Den Balkan durchquerend, dem Flüchtlingsstrom entgegen. Mit Kochtopf, Schlafsack und der Idee, Menschen auf der Flucht zu treffen und ihre Geschichten zu dokumentieren. Anfang Oktober 2015 radelten Christian Korherr und Paul Vincenth Schütz in Wien los, um es innerhalb von zwei Wochen ins 1.200 km entfernte Thessaloniki am griechischen Meer zu schaffen. Soviel vorweg: Sie erreichten weder das Eine noch das Andere.

 

Tag 1, km 75, Grenzstation Hegyeshalom (AT / HU): Refugees vs. Volunteers 2000:12

«Weil ich Zeit und Empathie habe.» Das war die Antwort des Stuttgarters Monir auf unsere Frage, weshalb er seit Wochen hier an der Grenze hilft. Wir treffen ihn nach unserem ersten Tag im Sattel an der österreich-ungarischen Grenze. Karina und Bettina sind Studentinnen aus Niederösterreich. David ein Ungar, der in Wien am Bau sein Geld verdient. Allen vier ist gemein, dass sie hier an der Grenze seit Wochen den Großteil ihrer freien Zeit mit der Verpflegung der durchkommenden Flüchtlinge zubringen. Die Frage, wo wir die Nacht campieren, erübrigt sich schnell. Um zwei Uhr morgens finden wir uns mit acht Frauen vom ungarischen Roten Kreuz und diesen vier Freiwilligen zum Verteilen von Essen und Getränken vor. Es erinnert an eine Marathonversorgungsstelle, bei der es nichts zu jubeln gibt. Es sind weit über 2.000 Menschen, die in dieser Nacht zu Fuß vom Bahnhof Hegyeshalom zum Grenzübergang Nickelsdorf unterwegs sind. Ein Becher Apfelsaft, ein Sandwich, eine Flasche Wasser und eine kurze Pause. Kinder bekommen eine Banane und ein Trinkpackerl extra.

Die darauffolgenden Tage geht es Kilometer um Kilometer durch die ungarische Puszta. Es sind vor allem die zahlreichen Reparaturpausen, die uns viele Gespräche mit ungarischen BürgerInnen ermöglichen.

Mirko, ein Zahnarzt, der uns einen Schlafplatz in seinem Ruderclub organisiert, Tamas, der Pauls Bike wieder zum fahren bringt, Ferenc, ein pensionierter Herzchirurg und unser Zeltnachbar am Campingplatz, Lukas, der uns mit dem Rad durch seine Stadt lotst. Spätestens wenn wir die Intention unserer Reise erwähnen, begegnen wir einem enormen Bedürfnis, sich über die derzeitige Flüchtlingssituation in ihrem Land mitzuteilen.

Anita, eine freundliche Lehrerin aus Györ, sympathisierte einerseits mit Victor Orbáns Politik und würde gleichzeitig gerne Flüchtlinge aufnehmen. Es sind Begegnungen wie mit Anita, die uns merken lassen, dass nicht nur Meinungen, die dem Flüchtlingsstrom kritisch gegenüber stehen, in ihrem Horizont eingeschränkt sind. Es sind Begegnungen wie mit Anita, die uns merken lassen, wie eingeschränkt unser Spektrum an denkbaren Möglichkeiten ist.

Tag 9, km 496, Opatovac (CRO / SER): Bett vs. Biwak 2:7

Nach gut einer Woche erreichen wir die kroatisch-serbische Grenze. Am Bahnhof Tovarnik begegnen wir zufällig Jana und Wibora von der Volunteer-Organisation Intereuropean Human Aid Association (IHA). Sie laden uns umgehend ins nahegelegene Grenzcamp von Opatovac ein. Dort arbeiten sie an den Strukturen, um die ankommenden Flüchtlinge mit entsprechender Kleidung zu versorgen. Im Camp treffen wir ein Dutzend höchst engagierter wie sympathischer Menschen. In 3- tunden-Schichten, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche wird hier eine Kleiderversorgung organisiert, die die 4.000 – 8.000 Menschen, die hier täglich durchgeschleust werden, mit der nötigsten Kleidung versorgt. Vor allem mit warmer Kleidung. Der Herbst hat mittlerweile auch diese Region erreicht. Kälte, Wind und Regen – das merken auch wir am Rad. In Ungarn ist der Gegenwind unangenehm. In Serbien wird er erniedrigend. Auf der gesamten 80 km Etappe nach Belgrad fahren wir gegen einen fahnenstrammen Wind an. Die Hälfte davon in strömendem Regen. Völlig durchnässt steigen wir in Belgrad in den Zug Richtung Mazedonien und verwandeln unser Abteil in einen erbärmlich stinkenden Trockenraum.

24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche.
Helge am Schichtplan vom Kleiderzelt Opatovac

Tag 11, km 650, Grenzstadt Preševo (SER / MAZ): Organisation vs. Desaster 0:1

Um vier Uhr morgens erreichen wir das 10.000-Seelen Dorf Preševo. Es schüttet aus vollen Kübeln und wir schieben unsere Räder durch ein unerwartetes Desaster. Hunderte Flüchtlinge suchen in den vermüllten Straßen erfolglos Schutz vor dem Regen. Viele der Campingzelte, die wahllos auf der Straße stehen, sind überflutet. Einen völlig überfüllten Unterschlupf bietet das Tee- und Suppenzelt der Niederösterreicher Reinhardt und Raffael. Zwei 100-Liter Kessel, die im Dauerbetrieb Tee und Suppe kochen, sind zu diesem Zeitpunkt die einzige Wärme- und Energiequelle für die anwesende Masse an Menschen. Die frierenden Flüchtlinge, die arbeitenden Volunteers, die überforderte örtliche Polizei – alle scheinen jenseits ihrer Limits. Wir erreichen eine angemietete Bruchbude, die den Volunteers als Infozentrale, Duschmöglichkeit und trockener Schlafplatz dient. Auf alten Teppichböden reihen sich dicht Schlafsack an Schlafsack. Das Fazit dieser Nacht: Vier Kinder, das älteste sieben Jahre alt, wurden rechtzeitig wie unterkühlt in einem gefluteten Campingzelt gefunden. Ein Volunteer-Arzt aus England erzählt, dass ein halbes Dutzend Menschen die Nacht nicht überlebt hätte, wären sie nicht entdeckt und behandelt worden. Eine Frau verliert ihr ungeborenes Kind. Darüber sprechen, seine Geschichte erzählen, sich austauschen, sich zuhören. Egal ob in Hegyeshalom, Opatovac oder hier in Preševo, die Freiwilligen, die bereits länger vor Ort sind, haben viel zu erzählen. Überall treffen wir auf diese einfache Methode, mit unfassbaren wie tragischen Erlebnissen umzugehen und sie zu verarbeiten. Am darauffolgenden Tag informieren wir die in Bussen ankommenden Menschen mittels mehrsprachigen Infotafeln über das bevorstehende Prozedere in den Registrierungszelten. Zwischendurch schnippelt man aus Müllsäcken provisorische Regenponchos, manchmal hilft man einem Mann, der seinen alten, beinamputierten Vater seit Anbeginn ihrer Flucht in einer Scheibtruhe transportiert, ein paar Meter am Weg. Bei uns genügen die Anstrengungen einer Woche am Rad für den Beschluss, die Reise abzubrechen. Der Eine hat sich eine Beinhautentzündung am Schienbein eingefangen. Der Andere eine Grippe.

Charlie und eine weitere Nacht in Preševo

Wildcampen irgendwo in Serbien

Organisieren vs. Lamentieren, Kooperieren vs. Kritisieren, Zuhören vs. Rechthaben.

Vieles lief anders als geplant. Vieles mag vorhersehbar gewesen sein. Vieles passierte unerwartet. Am Beginn der Reise wollten wir die Geschichten der Menschen auf der Flucht dokumentieren. Letztendlich haben wir am Weg den Geschichten der HelferInnen und BürgerInnen zugehört und in den Camps mitgeholfen, solange wir dort waren.

Den Freiwilligen, die wir trafen, war gemein, dass sie ihr Herzblut weniger für kräfteraubende Egotrips und problemorientierte Diskussionen verwendeten. Vielmehr wurde die Energie für das gemeinsame Lösen von Problemen genutzt, die durch persönliches Handeln veränderbar sind. Weg vom Lamentieren über das Unveränderliche. Hin zum Tun des Machbaren.

 

Christian „Indurain“ Korherr, Grafiker & Sozialpädagoge, arbeitet zur Zeit in einer Arbeits- und Wohngemeinschaft für Jugendliche im schweizerischen Appenzell und ist gern an der frischen Luft.

Paul „Ulrich“ Schütz, Fotograf, arbeitet in Linz als Teil des Gestaltungskollektivs Jungbrunnen und isst gern Pizza im Freien.

→ refugeeswelcomebiketrip.at

Fotos: Christian Korherr und Paul Schütz

 

Wer — wie jedes Jahr wieder — keine ordentliche Idee für ein vernünftiges Silvester hat, dem / der sei ein Reise mit einem Konvoi Richtung Flüchtlingsroute ans Herz gelegt. Bei Interesse meldet euch bei:

Team Jungbrunnen (Raum Linz), Paul Vincenth Schütz → paul@jungbrunnen.me (Weihnachten + Neujahr)

Tee & Wärme (Raum NÖ / Wien), Reinhard Krenn → Reini-86@gmx.at (26. 12. 2015 — 10. 1. 2016, Lesbos, GR)

Intereuropean Human Aid Association
→ iha.help

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