Als ob es einen Unterschied machen würde

Wenn Krieg in einem Land ausbricht, in dem man schon war. Die Ukraine in Reisebildern [1994/2002]. Von Lydia Mittermayr.

In Lviv trinken wir Vodka im Bus. Die Studenten reichen die Flasche und ich trinke, auch wenn es erst neun Uhr früh ist und wir auf dem Weg ins Freilichtmuseum sind. Ich bin ein guter Gast. Und trinke, ohne vorher abzuwischen, grinse mit einem wohligen Brennen in der Brust.

Als ich zum ersten Mal Gast in diesem Land bin, bin ich zu jung, um Vodka zu trinken. Zwei Tage fahren wir im Auto eines Verwandten, mein Vater vorne, die Frauen hinten, am Fenster ich. Zwei Tage starre ich nach draußen, die vertrockneten Sonnenblumen an, die in einer endlosen Geraden vorüber ziehen. Bis eine Felswand aus der Ebene ragt und wir inmitten grüner Hügel sind. Am Horizont kleine Ansammlungen von Gehöften. Schließlich die Grenze. Es ist Schichtwechsel und der Schranken geschlossen. Wir füllen die Zettel aus, schreiben auf, wie viel Bargeld wir bei uns haben. Ich muss aufs Klo und gehe zum hölzernen Verschlag. Am Boden sehe ich einen Haufen über einem Loch, das verschwunden ist. Und weiß auf einmal, ich war noch nie an so einem Ort.
Nach Stunden öffnen die Beamten den Schranken. Wir fahren weiter durch Wälder auf einer Straße, die wir zur Gänze einnehmen. Der Verwandte lenkt von links nach rechts, weicht den großen Schlaglöchern aus, fährt über die kleinen. Mit Gegenverkehr ist kaum zu rechnen. Immer wieder ragen Denkmäler über die Straße. Strecken uns Stahlspitzen und Flugzeugteile entgegen, Symbole der gerade erst vergangenen Zeit.
Wir fahren geradeaus, bis das Land flacher, die Felder weiter werden. Vorbei an alten Frauen, die in Schürzen vor den Häusern sitzen. An Ochsengespannen, die junge Männer lenken. Wie bei uns vor fünfzig Jahren, höre ich im Auto.
Das Dorf, das wir erreichen, besteht aus kleinen Häusern mit Gemüsegärten dahinter. Es ist mein Onkel, der hier seine Frau gefunden hat, sie mitnimmt. Weil alle schon weg sind, die Schwester in Deutschland mit Mann und eigenem Haus.
Die Brautfamilie drückt Hände und präsentiert Würste vom eigenen Schwein, Tische voller Schichtkuchen mit Cremebelag und blumigen Verzierungen. Sie bringen uns in ein Nachbarhaus zum Schlafen, in ein Wohnzimmer mit Couch und Ofen in der Ecke. Überall herrscht der gleiche Geruch, eine unbekannte Mischung aus süßer, modriger Luft.
Die Hochzeit ist im Saal der baptistischen Gemeinde. Gefestigt im Glauben, der ihnen so lang verboten war, singt der Chor Lieder. Meine Mutter fragt, ob sie auch eines singen darf. Alleine steht sie auf der Bühne, weil ich den Text nicht kann, und singt die drei Strophen über die letzte Nacht der Braut, die Acht geben soll, ihr Herz geprüft haben soll, damit nicht Scherz treiben soll. Es ist die letzte Nacht, junge Braut, gib Acht!

In Lviv stapfen wir mit den Studenten durch den Wald, besichtigen die Holzkirchen, die vom ganzen Land hierher verschleppt wurden, aus ihren Dörfern abgebaut wurden, um im Freilichtmuseum geschützt zu werden. Ich mache Bilder von den jahrhundertealten Kirchen, die kleiner als die Bäume sind.
Wir schlafen in einem Studentenheim. Ein ganzer Stock nur für uns Gäste. Wir gehen die Treppen hinauf. Es gibt kein Licht in den Gängen. Ich mache Fotos ins Dunkel, der Blitz erhellt den Flur. In dem Moment sehen wir die Badewannen, herausgerissen, an die Wände gelehnt. Kabel, die aus dem Putz ragen, zerborstene Fensterscheiben am Ende des Gangs. Schutt und Scherben am Boden. Und an den Gesichtern der anderen sehe ich, sie waren noch nie an so einem Ort.
Im Zug finde ich den Geruch in den Schlafwagen wieder. Zwölf Stunden braucht er für 600 Kilometer, weil an der Grenze die Spur der Räder von breit auf schmal geändert wird. Vom Vor- und Zurückruckeln wache ich auf. Gehe ans Ende des Zuges zur offenen Plattform und sehe den Männern zu, wie sie im Dunkeln am Waggon hantieren.

Als die Panzer über die Grenze rollen, fährt meine Tante wieder in ihr Dorf. Bringt Hygieneartikel und Frauensachen, wie sie es nennt. In der Nacht hört sie die Sirenen. Ich denke an die kleinen Kirchen im Wald, wer sie jetzt beschützt, und frage mich, wie oft das schon geschehen ist. Dass Krieg in einem Land ausbricht, in dem ich schon war. Dass Altstädte zerstört werden, nachdem ich Souvenirs dort gekauft habe. Dass Rollbahnen bombardiert werden, nachdem ich darauf gelandet bin. Als ob es einen Unterschied machen würde, ob ich schon dort war oder nicht.

In der Reihe „Über den Tellerrand“ erscheinen Beiträge, die einen Blick jenseits der (ober)österreichischen Landesgrenzen werfen.

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