Mit einem Bein im Grab

Pamela Neuwirth über Memorials und Medienkunst in Riga.

Lettland ist anders und mehr als Bernstein und buntgestrickte Socken. Der Staat liegt an der nord-östlichen EU-Grenze und bildet das Zentrum des Baltikums. Es teilt sich die Nationalflagge mit Österreich, nur die Proportionen setzt es nicht so regelmäßig. Es existieren einige Parallelen zu unserer Geschichte. Drei Menschen aus Linz reisten für eine Ausstellungsbeteiligung in die Europäische Kulturhauptstadt Riga. Der Reisebericht erzählt von Medienkunst, von Memorials, vom KGB und von verhaltensgestörten Raben.

Das Schönste in Riga und Lettland? Das könnten vielleicht die vielen Birkenwäldchen sein, auch die Kiefernwälder. Riga ist eine Baumstadt. Die durch hochgewachsene Bäume immer lichtdurchfluteten Wälder ziehen sich bis zum Meer hin und säumen den Strand. Trotzdem liegt über den hellen Wäldern ein Schatten. Die Nazis verscharrten dort einst die Leichen der ermordeten Juden. Ein Konzentrationslager hatte den idyllischen Namen «Kaiserwald». Getötet wurden die Menschen anonym im «Wald vom Rumboli», einem Kiefernwäldchen mitten in der Stadt. Die alten Lettinnen, von denen noch viele in der Stadt und am Land die deutsche Sprache sprechen, vermeiden, wo immer es geht, sie in den Mund zu nehmen. Der deutsche Medienkünstler Karl-Heinz Jeron hat auf der Reise davon erzählt. Die Problematik des 20. Jahrhunderts und die Gewalt der Ideologien spiegeln sich exemplarisch in der gemeinsamen Biografie des Janis Lipke und seiner Frau Johanna. Durch Manu Luksch habe ich von deren Memorial erfahren. Zwischen Ausstellungsaufbau und Ausstellungsaufbau wandere ich über die Brücke und suche ein schwarzes Holzhaus. Ein Taxi rollt heran und lässt ein älteres Ehepaar vor dem Memorial aussteigen. Nicht viel los zur Mittagszeit, wir werden uns am Eingang einig, die Ausstellung gemeinsam anzusehen. Dann die Frage: Where are you from? Und ich (gedehnt): Austria. Ein bedenklicher Blick. Ich zucke etwas resigniert die Schultern. Die Mutter der Besucherin war eine der Überlebenden durch Janis und Johannas Hilfe. Beide retteten mehrere Dutzend Menschen vor dem sicheren Tod durch die Nazis. Ein tiefer Erd-Bunker am Ufer der Daugava, das heute eilig mit teurer Architektur zugebaut wird und fast keine Leerstände mehr aufweist, war für viele Jahre deren Versteck. In mondfinsteren Nächten war das Risiko geringer und die Gefangenen kletterten für kurze Zeit aus dem Bunker, um im Dunkel über ihre Zukunft zu spekulieren. Das Schicksal meinte es letztendlich gut mit ihnen, sie alle überlebten. Die beiden Letten Janis und Johanna blieben in Riga und die Zeit wurde nicht einfacher. Nach dem Krieg kam die Okkupation durch die Russen. Auch den Machthabern Stalins war der Philanthrop Lipke suspekt; einige Male verhörten sie ihn im sogenannten Corner-House. Auch das überlebte er. Kein Wunder, dass viele der Alten, neben dem Deutsch, auch die russische Sprache ablehnen. Heute ist das Memorial für Janis und Johanna Lipke, dessen Architektur sich düster zurücknimmt, ein Geheimtipp. Das Corner-House des KGB (Stura maja) aber, ein riesiger Gründerzeit-Block, ist eine echte Touristen-Attraktion im alten Stadtteil von Riga. In sechs Stockwerken werden nicht nur die Machenschaften des russischen Geheimdienstes KGB in Lettland aufgerollt, sondern eine breite Sicht auf die lettische Kulturgeschichte vorgestellt. Als wir das «KGB-Haus» besuchen, kommt eine Gruppe junger lettischer Frauen dazu. Bilder von Dissidenten auf großen Fotos, dann rechts vom größten Raum im Erdgeschoß gelegen, der Exekutionsraum. Ein finsteres Loch, indem die Gefangenen mit Genickschuss hingerichtet wurden. Die jungen Frauen verlassen scherzend das Verlies und wenden sich wieder ihren Mobiltelefonen zu. Manchmal scheint es schwierig, der Vergangenheit zu begegnen. Wie viel Diskussion braucht die Stadt und das Gebäude für das, was man gemeinhin Vergangenheitsbewältigung nennt, falls es eine solche gibt? Schwierig zu beantworten. Und nur individuell. In den Interventionen von jungen Künstlerinnen im Corner House wird die Vergangenheit neu interpretiert, beispielsweise durch die drastischen Story-Tellers von Nikita Kadan. Wäldchen durchziehen die Stadt, Brachen lösen sie ab, fransen aus, werden von Parks aufgefangen, kleine Flüsse vermitteln viel Lebensqualität. Auf der Suche nach Zink-Spray weiter draußen in der Stadt, torkeln mir Alkoholiker mit zerschlagenen Gesichtern auf den urbanen Brachen entgegen. Brachen, aus denen man soviel machen kann – wie es zumindest so oft heißt. In der Innenstadt macht der Reichtum auf sich aufmerksam. In den Schaufenstern werden die Preise für Kleidung und Schuhe garnicht mehr beziffert.

Wir arbeiten in der Altstadt von Riga. Die FIELDSAusstellung (lett. LAUKI) ist wirklich groß aufgezogen:
National Museum, Marmorboden, Kuratoren, Pressekonferenz. Dabei ist die Initiative von der wir eingeladen wurden, überschaubar. RIXC (sprich Rixi) gibt es seit etwa 20 Jahren und die haben wirklich klein, weil unabhängig angefangen und sind es heute noch. RIXC versteht sich als eine Kooperation aus künstlerischen Gruppen und Vereinen, die sich mit Kunst, Film, Musik, Jugend- und Subkultur beschäftigt. Der Auftritt im National Museum ist wohl eine Ausnahme. Die Kulturhauptstadt hat es möglich gemacht, dass wir, wie ich lange vermutet habe, nicht in einer Garage oder im Hinterhof ausstellen. Schade irgendwie auch. RIXC zeigt nach Waves (2006) mit der Ausstellung FIELDS (2014) zeitgenössische Positionen der Medienkunst, ohne die Vergangenheit auszuklammern. Nur was ist Vergangenheit in der Medienkunst? Wurde sie nicht schon längst zu Grabe getragen? Oder ist sie ein Kind mit acht Armen, drei Gehirnen und USB-Nabelschnur? So wie sich die Ausstellung am Eröffnungstag präsentiert hat, stellt sich die Frage, warum dieses oder jenes so aussieht, als hätte sich die Medienkunst vor zwanzig Jahren auch schon mit diesem oder jenem beschäftigt. Flimmernde Fernseher, Kabelsalat, metallisches Geräusch. Ästhetisch hat sich alles nicht groß verändert. Sicher ist heute vieles «fancy» und kann erst jetzt durch high-end Technologien dargestellt werden. Radioaktiver Zerfall im Ausstellungsbereich ist überhaupt kein Problem! Aber es geht auch immer noch «crappy» zu. Auch bei uns.

Ghostradio probiert mit Wasser, Spiegeln und alten schwarz/weiß TV-Apparaten herum (statt dem geplanten Strandausflug musste das Gerät dann über Stunden repariert werden). Wir verwenden verbeulte und verrostete Dosen, um dem Zufall auf die Spur kommen. Die Primzahlen, die allgemein zur Verschlüsselung unserer Daten im Netz verwendet werden, sind heutzutage in mächtigen Tresoren versperrt. Sie sind einfach zu schwer ermittelbar, als dass die Monolithen der Mathematik in Freiheit bleiben könnten. Gauss ist lange tot und Primzahlen sind teuer. Sie werden heute an Firmen verkauft. Daran schließt das Projekt Ghostradio an: Wenn sich im Netz die Freiheit nur schwer bewahren oder bezahlen lässt, dann musst du dich selbst um die Kryptografie kümmern. Ghostradio hat sich vor drei Jahren in einer Systemtheorie-Nacht in der Stadtwerkstatt entwickelt. Seitdem untersuchen Franz Xaver, Markus Decker und ich das Phänomen Zufall. Für FIELDS haben wir einen Lord Kelvin Thunderstorm Generator aufgebaut, der das elektro-statische Feld in ein elektro-dynamisches Feld wechselt. Das physikalische Phänomen überwindet teilweise die Gravitation. Die Wassertropfen fallen dann in gekrümmten Bahnen herab. Diese Unvorhersehbarkeiten werden durch Feedback-Schleifen analysiert.

Ghostradio hat sich selbst kein (AUT) für die Ausstellung verpasst. Aber wir waren von einer illustren Runde von Künstlerinnen umgeben, von der zumindest die meisten irgendwann einmal in Österreich verortet waren: Erich Berger mit «Polsprung», Hans A. Scheirl mit «transgenics», Ines Doujak mit «Warpaths », Annja Krautgasser mit «Prelude» oder Manu Luksch mit «Kayak Libre».

Wir wissen nicht, warum eine große Krähe vor dem National Museum einzelne und nur männliche Passanten anfällt. Seinen Furor bringt das Tier im Baum überdeutlich zum Ausdruck, wenn es mit seinem beeindruckenden Schnabel in den Ast (auf dem es selbst sitzt!) hackt. Es ist viel los in der Kulturhauptstadt. Die Empty Spaces, die von Kuratorenseite so genannt und damit mit Bedeutung aufgeladen werden, sind in Riga zahlreich. Seit 1991 haben etwa 200.000 Menschen Lettland verlassen. Dort kann also viel passieren, Möglichkeiten stehen zumindest räumlich offen. Die alten Datschas zwischen Flughafen und Altstadt wurden längst geschliffen.
Heute ist die Nachfrage wieder da. Es wird viel gebaut. Auch Einkaufszentren, Bankentürme und Versicherungsgebäude.
Inwieweit sich Chancen zum Beispiel für kleine Kunst- und Kulturinitiativen ergeben, ist offen. RIXC hatte einfach einen sehr langen Atem. Und es gibt sie immer noch. Kommt einem alles irgendwie bekannt vor –

riga2014.org/KGB
fields.rixc.lv
firstfloor.org/ghostradio

 

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