Werkbegriff Nachhaltigkeit – Resonanzen eines Leitbildes

Seit einiger Zeit schon versuche ich die Motten in meinem Haushalt nachhaltig los zu werden. Mit «nachhaltig» meine ich in diesem speziellen Fall, dass ich diese Biester nicht mehr in meinem Speiseschrank sehen möchte und sie sollen sich auch künftig nie wieder bei mir blicken lassen. Hans Carl von Carlowitz, der diesen Begriff als Erster 1713 publizierte, verstand unter Nachhaltigkeit etwas anderes, nämlich eine Art der Forstwirtschaft, die angesichts des damals vorherrschenden Raubbaus an den Wäldern rund um die entstehenden Industrien so gestaltet sein sollte, dass auch die nachfolgenden Generationen noch genug Bäume zu fällen haben.

Mittlerweile ist das N-Wort dermaßen populär, dass es mir schon schwer fällt, es auszusprechen (oder nieder zu schreiben) ohne wechselweise belustigt und verlegen zu sein.

Das jüngste mir bekannte Beispiel aus einer langen und skurrilen Reihe von Wortdeutungen findet sich in einem Standardausstattungskatalog, den Landesrat Manfred Haimbuchner als Pflichtenheft für die oberösterreichische Wohnbauförderung vorgestellt hat: «Loggien-, Balkon- und Terrassenflächen […] Boden: Betonplatten wegen Nachhaltigkeit (keine Keramik, kein Holz)». Besagte Betonplatten sind relativ billig und deshalb wirtschaftlich nachhaltig. Vom ökologischen Standpunkt aus gesehen allerdings, spricht doch einiges für den Baustoff Holz.

Dieser um sich greifenden Sprachverwirrung sind sich die HerausgeberInnen Kai Mitschele und Sabine Scharff bewusst und versammeln im vorliegenden Buch diverse, teilweise widersprüchliche Positionen.

Die Themen spannen sich von Städtebau über Design, Energie und Marketing. Als Leser bekomme ich einen weit gestreuten Einblick in die Heterogenität des Sprachgebrauchs in den verschiedenen Feldern. Mittlerweile kommt wohl auch keine Disziplin mehr ohne Nachhaltigkeit aus, nachvollziehbar – wer will sich schon die positive Konnotation, die der Begriff in der Realität des Sprachgebrauchs genießt, entgehen lassen.

Schlussendlich erliegt diese Sammlung leider dem selben Dilemma, wie die meisten Reader, denn am Ende steht die Erkenntnis, dass «Nachhaltigkeit», so wie andere Modebegriffe, sich verselbstständigt, vieldeutig und damit für einen ernsthaften Diskurs mehr und mehr unbrauchbar wird. Von einem Leitbegriff, so wie im Untertitel, zu sprechen erscheint mir jedoch nach der Lektüre nicht mehr als angebracht. Lavendel wirkt im Übrigen auch nicht wirklich gut gegen meine Motten.

Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.): Werkbegriff Nachhaltigkeit. Resonanzen eines Leitbildes.
222 Seiten, Transcript 2013, ISBN 978-3-8376-2422-9.

Gelesen von Franz Koppelstätter.
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