Geschlecht, Klasse und Psyche 

Beatrice Frasl beleuchtet in ihrem Podcast Große Töchter seit 2018 aktuelle Thematiken mit feministischem Blick. Jetzt hat die Kulturwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin mit Patriarchale Belastungsstörung ihr Sachbuchdebüt vorgelegt, das sich mit psychischen Krankheiten und ihrem gesellschaftlichen Umgang beschäftigt. Der Untertitel Geschlecht, Klasse und Psyche verrät: Beatrice Frasl möchte weg von ausschließlich individualisierten Diagnosen und biologischen Ursachen hin zu einer Systemanalyse. Sie zeigt sozioökomische Faktoren auf, die z. B. Depressionen begünstigen (Einsamkeit, Armut, Diskriminierung, mangelnde Möglichkeit zur Mitgestaltung) und stellt fest, wie sich ein Leben im Prekariat auf die Psyche auswirkt. Menschen, die von Armut betroffen oder armutsgefährdet sind, erleben nicht nur häufiger Depressionen, sie sterben auch um Jahre früher, denn nicht nur Kapital ist weltweit höchst ungleich verteilt, sondern auch psychische Gesundheit und damit Lebenszeit. Die Rezensentin hat beim Lesen dieses Buches mehrmals vor Wut geheult. Im 19. Jahrhundert wäre sie dafür vermutlich als Hysterikerin abgestempelt und in die Psychiatrie abgeschoben worden. Neben einem Überblick über den „weiblichen Wahnsinn“ und die perfiden historischen Versuche ihn zu „heilen“ (googeln Sie mal „Klitoridektomie“), thematisiert Beatrice Frasl auch das: Was, wenn in vielen Fällen intensive (weibliche) Emotionen keine Marker für „Störungen“ sind, sondern angemessene Reaktionen auf die Komplexität der Welt, auf patriarchale Gewalt? Sie erklärt, warum Psychiatrien gleichermaßen „Zufluchtsorte“ wie „Zurichtungsorte“ sein können und wieso manche Diagnosen befreiend, andere pathologisierend sein können. Diese Ambivalenzen dürfen auch stehen gelassen werden. Anspruch der Autorin ist es nicht, alle Widersprüche zu klären, sondern einen diskursiven Raum zu öffnen. Beatrice Frasl hat auch konkrete Forderungen: z. B. Psychotherapie-Kassenplätze für alle und einen niederschwelligen Zugang zu diesen, sowie systemische Änderungen hin zu einem solidarischen Miteinander. Patriarchale Belastungsstörung ist ein brillantes und hochpolitisches Plädoyer für ein lebenswerteres Leben. Und zwar für alle. 

Beatrice Frasl, Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche, 384 Seiten, Haymon 2022.

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