Österreichische Zeitgeschichte

Margit Reiters Buch Die Ehemaligen macht wissenschaftlich nachvollziehbar, dass eines der durchgängigen Merkmale der FPÖ das Sprechen mit gespaltener Zunge ist, der sogenannte ‹double speak›, der das Brücklein spannt über die mächtig tief klaffende Kluft zwischen Innen- und Außendiskurs. Mit Redlichkeit und spannend wie in einem Kriminalroman, spürt die Historikerin dem Innenleben einer sich im gemeinsamen Schicksal wiedererkennenden und einbindenden blauen Wertegemeinschaft nach und widmet ihre wissenschaftliche Aufmerksamkeit der Vor- und Frühgeschichte der Partei. Damit schließt sie eine Forschungslücke, die der kürzlich verspätet publizierte FPÖ-‹Historikerbericht› noch vergrößert hat. Durch Analyse zahlreicher Innen- und Außendiskurse entschlüsselt sie nicht nur den Entstehungskontext der Blauen, sondern geht vielmehr einer Partei auf den Grund, deren Wesen ohne Deutschnationalismus, ‹Systemzeit› und Nationalsozialismus weder inhaltlich noch strukturell verstanden werden kann. Im langen Nachkriegsjahrzehnt, das mit dem Abzug der Alliierten aus dem flauschig entnazifizierten Österreich 1955 seinen Abschluss fand, konnten die ‹Ehemaligen› in den noch fruchtbaren Trümmern Wurzeln schlagen und Blüten treiben, gleich einer schöneren, knorpeligen Waldviertler-Eiche, sodass fortlaufend mehr Licht brechender und Schatten spendender Platz frei wurde für ein gemeinhin als ‹Drittes Lager› bezeichnetes, rot-weiß-rot getünchtes Picknick-Erlebnis. Ein Sprung in die Gegenwart: 2020 präsentierte Margit Reiter ihre Publikation in Wels, auf Einladung der Welser Initiative gegen Faschismus, die 1984, sieben Jahre vor Vranitzkys Opferthese-Rede, zur Bekämpfung brauner Umtriebe gegründet worden war. Im romanischen Kuppelgewölbe der KUPF-Mitgliedsinitiative FreiRaumWels (über deren Eingang seit 2015 eine polizeiliche Überwachungskamera der FPÖ-geführten Stadt Wels prangt) sprach sie vor und mit knapp 100 achtsamen Personen, in unmittelbarer Nähe zur Sigmar-Kapelle am Mühlbach, in der 1995 eine Waffen-SS-Gedenktafel der Kameradschaft IV durch unidentifizierbare Täter*innen dem Fluss der Geschichte überantwortet worden war.

Margit Reiter, Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ, Wallstein-Verlag 2019, 392 Seiten.

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