Salzburger Festspiele 1920–2020

Die Entwicklung der Salzburger Festspiele, die Geschichte des Jedermann und insbesondere die Auswirkungen der NS-Zeit skizziert Autor und Historiker Gert Kerschbaumer.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges schloss Europa seine Grenzen für den Zivilverkehr. Internationale Eisenbahnlinien waren über das Kriegsende hinweg zerschnitten. Dennoch starben in Europa über zwei Millionen Menschen an der Spanischen Grippe, der schwersten globalen Pandemie des 20. Jahrhunderts. Es herrschte soziale Not: eine düstere Zeit, in der die Salzburger Festspiele mit Hugo von Hofmannsthals Jedermann gegründet wurden, inszeniert von Max Reinhardt vor der barocken Schaufassade des Domes, auf dessen Giebel die Figur Salvator Mundi emporragt: Christus als Retter der Welt. Max Reinhardt besetzte die Titelrolle mit seinem Bühnenstar Alexander Moissi. Er durfte den reichen Sünder spielen, der letztendlich zum christlichen Glauben findet und durch die Gnade Gottes gerettet wird. Premiere war am Abend des 22. August 1920. Das Wetter wollte anfänglich nicht mitspielen. Dunkle Wolken zogen auf. Als Moissi jedoch das Vaterunser deklamierte, erstrahlte die Domfassade vom Giebel abwärts im Abendlicht. Das Publikum, darunter der Erzbischof, soll zu Tränen gerührt gewesen sein. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes war allerdings nicht jedermanns Sache. Für Waisen, Witwen und Kriegsinvalide gab es aber, der sozialen Ruhe und Ordnung wegen, eine Sondervorstellung. Außerdem mangelte es nicht an illustrem Publikum, das vornehmlich im Salzkammergut, in dieser paradiesischen Seen- und Berglandschaft, seine Sommerfrische verbrachte und die Schmalspurbahn von Bad Ischl über St. Gilgen nach Salzburg benutzen konnte. Die Sommerfrischen des Salzkammergutes galten als «verjudet», die Salzburger Festspiele ebenfalls. Der in Salzburg lebende Dichter Hermann Bahr stellte fest, dass ihn «die mit ungestümer Macht auf Jedermanns Ruf über unsere unglückliche Stadt hereinbrechende Hebräerflut» über die Grenze nach Berchtesgaden vertrieben habe. Es heißt, dass Max Reinhardt als Jude nie zum Präsidenten der Festspiele gekürt worden wäre. Trotz wütender Proteste von antisemitischer Seite gelang es allerdings im Jubiläumsjahr 1930, den Platz vor dem Festspielhaus nach dem Gründer und künstlerischen Leiter Max Reinhardt zu benennen. Im Jahr 1934 gerieten Reinhardts Schloss Leopoldskron und das Festspielhaus ins Visier der illegalen NSDAP: Bombenattentate, die nicht nur Sachschaden anrichteten. In Salzburg sollte sich Reinhardt als Jude seines Lebens nicht mehr sicher fühlen. Unter dem Dirigenten Arturo Toscanini, der den Bayreuther Festspielen – «Hitlers Hoftheater» – den Rücken gekehrt hatte, konnten die Salzburger Festspiele enorm an internationaler Strahlkraft gewinnen. 1937 begann der von Toscanini geforderte Umbau des Festspielhauses: ein «Protzbau», der nur dem jüdischen Festspielrummel diene, wetterte die knapp hinter der Grenze im Deutschen Reich produzierte ÖsterreichAusgabe des Völkischen Beobachters. Auf Adolf Hitlers Diktat vom 12. Februar 1938 am Obersalzberg – Beteiligung von Nationalsozialisten an der österreichischen Regierung – reagierte Maestro Toscanini prompt: keine Mitwirkung an den Salzburger Festspielen unter nationalsozialistischen «Herren». Toscanini dirigierte hingegen in Tel Aviv und Jerusalem aus Solidarität mit vertriebenen Jüdinnen und Juden. Nun fungierte Dr. Joseph Goebbels als Spindoktor der Salzburger Festspiele, die sieben Jahre als «judenrein» galten. 4. Mai 1945: Befreiung der Festspielstadt Salzburg durch US-Truppen. Ganz oben auf der Agenda der US-Kulturmission, die der vertriebene Österreicher Ernst Lothar als US-Kulturoffizier leitete, stand die Wiederbelebung der alten Glanzzeiten vor dem Gewaltjahr 1938. Ernst Lothar war es auch, der die Rückkehr von Helene Thimig, der Witwe Max Reinhardts, aus den USA und ihren Empfang auf dem Salzburger Hauptbahnhof am 31. Juli 1946 arrangierte – als Auftakt zu den wiederbelebten Festspielen: «Triumphale Rückkehr Helene Thimigs nach Salzburg», schrieb der Wiener Kurier im August 1946. Es war eine Huldigung, die sonst nur König*innen entgegengebracht wird: eine Menschentraube, Politik und Medien, Kameras und Scheinwerfer, die bei der Ankunft Helene Thimigs – sie war weder Jüdin noch politisch Vertriebene – aufflammten, und daraufhin Ernst Lothar, der die Witwe als Erbin und Überbringerin der völkerverbindenden Ideen und Regiekunst Max Reinhardts begrüßte: «Wir freuen uns, dass Sie hier sind. Mit Ihnen kehrt Max Reinhardt zurück.» Max Reinhardt war als vertriebener Jude im Exil gestorben, beraubt in Salzburg. Das wollte aber im befreiten Salzburg niemand wissen. Ernst Lothar ist es dennoch zu verdanken, dass Reinhardts Jedermann nach siebenjähriger Verbannung zurückkehrte, und mit ihm sein toter Inszenator als Mythos. Die Titelrolle im ersten Jedermann nach der Befreiung spielte Ewald Balser, der unter dem NS-Regime «Staatsschauspieler» war und auf der Liste der «Gottbegnadeten» von Goebbels stand. Auch das wollte im befreiten Salzburg niemand wissen, weshalb noch in den 1990er Jahren im Jedermann die Stimme Ewald Balsers als «Gott der Herr» vom Salzburger Dom herab erschallen konnte. Die befreite Festspielstadt, die keinen Juden mehr als künstlerischen Leiter wollte, entschied sich für den Dirigenten Herbert von Karajan, ebenso ehemaliger «Gottbegnadeter», und sein Großes Festspielhaus als Pilgerstätte für Wagnerianer*innen, allerdings ungeeignet für Mozartopern. Nach Karajans Tod dauerte es Jahrzehnte, ehe die Festspiele ihr «Haus für Mozart» mit Le Nozze di Figaro eröffneten. Unter den künstlerischen Leitern Gerard Mortier und Markus Hinterhäuser hat auch die Moderne in das Festspielprogramm Einzug gehalten. Schließlich stellt sich die Frage, wie sich die legendenumwobenen Salzburger Festspiele im Jubiläumsjahr 2020 angesichts der globalen Pandemie und dichtgemachten nationalen Grenzen inszenieren. Die barocke Schaufassade steht wie ehedem an ihrem Ort und harrt der Dinge, die da kommen. Oder gedenken wir der 1938 vertriebenen Künstler*- innen, denen die Salzburger Festspiele ihre internationale Strahlkraft verdanken?

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