Die normale Avantgarde

Jetzt steht also das Normale im Rampenlicht der politischen Diskussion. Das Sommerloch in diesem Jahr ist noch größer als sonst und kommt im schwärzesten Schwarz daher. Sie habe nie in «normal» und «abnormal» eingeteilt. Das politische Gegenteil, meint Johanna Mikl-Leitner, von «normal» sei nämlich «radikal». Dieser Satz ist gleich dreimal falsch: Erstens gibt es so etwas wie ein «politisches Gegenteil» nicht. Zweitens lässt sich menschliches Verhalten kaum in gegensätzliche Begrifflichkeiten zwängen. Und wenn man das schon möchte, dann wäre es drittens angebracht, wenigstens bestehende Antonyme zu verwenden und nicht absurde Begriffspaare wie «normal» / «radikal» zu erfinden. Aber nehmen wir an, das «politische Gegenteil» des «Normalen» wäre das «Radikale». Und schließen wir uns dem Werturteil der Frau Landeshauptfrau an und lassen wir das «Normale» das «Gute» sein und das «Radikale» das «Schlechte». Was würde das für die Künste bedeuten? Die Absage an die sogenannte Normalität ist regelmäßig Grundbedingung oder zumindest Ausgangspunkt für Kunstproduktion. Die Werke von Maria Lassnig, Ludwig van Beethoven und Elfriede Jelinek etwa erregten die Gemüter der (gar nicht so) schweigsamen Mehrheit. Was heute kanonisiert ist, galt zur Zeit seiner Entstehung nicht selten als extrem, grenzüberschreitend oder «abnorm». Ob «Klimakleber*innen» oder Performance Art: Interventionen im öffentlichen Raum werden häufig als störend, chaotisch oder rücksichtslos empfunden – darin unterscheidet sich die Letzte Generation nicht von Hubsi Kramar, VALIE EXPORT und Hermann Nitsch. Seien wir also großzügig: Lassen wir «radikal» das Gegenteil von «normal» sein und nehmen wir dieses Dada als Ansporn für neue Begeisterung am Radikalen, an ästhetischen Positionen, die die Überschreitung der Normalkurve feiern – Kanonisierung bedarf der Avantgarden, Veränderung des Experiments. Denn vielleicht ist die Mehrheit in diesem Land gar nicht so still, wie Teile der Politik es gerne hätten. Mehr zu denken als das Schweigen der breiten Mitte gibt allerdings das der Kulturszene – aber vielleicht wurde alles, was es dazu noch zu sagen gäbe, bereits vom schwärzesten aller schwarzen Sommerlöcher verschluckt.

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