Schnee von gestern

Durch die Romane von Joseph Roth geistert der Kapellmeister Nechwal. In der Ortschaft W., wo Franz Trotta Bezirkshauptmann ist, leitet er die Militärkapelle des Infanterieregiments. Nechwal komponiert für jeden festlichen Anlass einen eigenen Marsch, die Melodien sind einander allerdings so ähnlich, dass die Anwesenden immer glauben, sie hätten die Musik bereits gehört. Diese Episode lässt daran denken, wie Kultur und Politik sich immer wieder zueinander verhalten. Wer nimmt welche Rolle ein? Ist die Politik Kapellmeister*in und die Kultur Publikum? Oder ist die Kultur Kapellmeister*in und die Politik sieht zu? Oder hängt es von der Inszenierung ab, wer die Hauptrolle spielt?

Als Kolumnist*innen fragen wir uns: Worüber müssen / können / dürfen / sollen wir schreiben? Das impliziert eine Gemengelage von Bedürfnissen, Anliegen, Problemlagen etc., die uns schnell ermüdete. Kurzzeitige Zerstreuungen, u. a. bei der Diskussion über Heckspoiler, erwiesen sich als spaßig, aber nicht zielführend. Im Gedächtnis picken geblieben ist allenfalls die – nicht unwidersprochene – Hypothese, es handle sich dabei um Oberösterreichs Antwort auf Fugazi.

Was die beiden Autor*innen jedenfalls umtreibt: Wie kann es dem Kulturbetrieb gelingen, einer Welt der „gemischten Realitäten“ (© Kathrin Röggla) nicht hinterherzuhecheln und einen Zustand der Inkommensurabilität reflexhaft zu bedienen, sondern zur Entwirrung gesellschaftlicher und politischer Fragen beitragen?

Es ist essentiell, die Bedingungen des eigenen Schaffens und der eigenen Arbeit zu reflektieren. Das gilt besonders dort, wo das Prekariat droht. Dabei darf man aber nicht in die Falle geraten, sich in dem wechselnden Rollenspiel Kapellmeister*in vs. Publikum zu verlieren. Damit ist nicht gemeint, veraltete Vorstellungen der in den Elfenbeinturm verbannten ‚arts pour les arts‘ in Feigenblatt-Funktion auserwählter Mächtiger aufleben zu lassen. Vielmehr geht es darum, nochmals Röggla, „weder den gegenwärtigen Augenblick zu verabsolutieren noch der allzu spekulativen Bewegung zu folgen“. Die Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Welt verlangt Übung im Tun und im Denken. Das gilt für Kapellmeister*in und Publikum.

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