Guter Durchschnitt, schlechter Durchschnitt

Irene Diwiak war von September bis November 2023 Stadtschreiberin in Wels.

Nun, da meine Stadtschreiberinnenschaft schon fast drei Monate andauert, werde ich häufig gefragt, was mir so auffällt: an Wels, an den Welserinnen, den Welsern. Was anders ist, was besonders ist, was ich so noch nie gesehen habe. Ich schlucke dann immer und muss zugeben: nicht viel. Vielleicht habe ich eine für eine Schriftstellerin peinlich schlecht entwickelte Beobachtungsgabe. Oder aber es ist so, dass einem in Wels immer alles irgendwie bekannt vorkommt, wenn man in Österreich aufgewachsen ist.

Ich habe einmal gelesen, dass Wels die Musterstadt Österreichs sein soll. Dies mag vielleicht verwunderlich klingen: Eine Stadt, die sich ein Programmkino, ein Stadttheater und eben sogar eine Stadtschreiberin leistet, steht stellvertretend für ganz Österreich? Ist unser Volk denn tatsächlich so begnadet für das Schöne, wie wir es bei jedem Fußballspiel unserer Nationalelf singen? Eher habe ich das Gefühl, dass die verhältnismäßig reiche Welser Kulturszene engagierten Individuen zu verdanken ist, die sich zufällig hier zusammengefunden haben. Oder dann vielleicht auch nicht so zufällig, denn das politische Klima lässt die Kulturbeflissenen noch enger zusammenrücken. Aber dazu später mehr.

Alter Schl8hof hin, Medienkulturhaus her, Unternehmen testen jedenfalls ihre Produkte für den österreichischen Markt erst einmal in Wels. Was Wels gefällt, gefällt in diesem Land auch sonst jedem, so die These. Ob das wirklich stimmt mit der Musterstadt, weiß ich nicht, aber ich könnte es mir gut vorstellen. Wels ist also so durchschnittlich, dass es tonangebend ist. Es wundert daher nicht, dass diese Durchschnittlichkeit identitätsbildend wirkt und zu einem sehr eigentümlichen Lokalpatriotismus führt: Wels darf nicht allzu harsch kritisiert werden. Lob ist aber auch nicht angebracht.

Rückständig?
Mein Vorgänger als Stadtschreiber, Stefan Kutzenberger, hat in seiner Kolumne in den OÖ-Nachrichten einmal eine Geschichte niedergeschrieben, die ihm ein alter Einheimischer erzählt hat. Darin spielte eine gewisse Straße in Wels eine Rolle, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch nicht asphaltiert gewesen war. Was Kutzenberger für eine harmlose, vielleicht sogar rührselige Geschichte hielt, führte zu einem erbosten Leser*innenbrief:

Was diesem Autor aus Wien einfalle, Wels als dermaßen rückständig zu schildern, in den vierziger Jahren seien selbstverständlich alle Straßen asphaltiert gewesen!¹

Nun schreibe ich selbst eine Kolumne für die OÖ-Nachrichten. Sie besteht vor allem aus Anekdoten, die ich aus Besuchen verschiedener Sehenswürdigkeiten wie dem Tiergarten, der öffentlichen Bibliothek oder dem Friedhof beziehe. Dementsprechend sind sie in einem heiteren Ton geschrieben, oft mit einer Schlusspointe, weit weg von jedem politischen Investigativjournalismus. Einmal schrieb ich, dass die Welser*innen sehr freundlich wären, jedenfalls freundlicher als die Wiener*innen. Ich erhielt eine, passenderweise ausgesprochen freundlich formulierte E-Mail, dass mein naiver Blick auf die Stadt zwar sehr lobenswert sei, es schon aber auch massive Probleme gebe, die ich doch auch einmal ansprechen könne.

Komplexität
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kutzenbergers und mein Leser*innenbrief nicht von derselben Person stammen. Dennoch ergeben die beiden Geschichten gemeinsam einen guten Einblick in die komplexbehaftete Beziehung der durchschnittlichen Welser*innen zu ihrer durchschnittlichen Stadt. Man verteidigt sie, schimpft sie aber auch, fühlt sich stark verbunden mit Teilaspekten und hasst die anderen Teile leidenschaftlich. Für Außenstehende ergibt sich hier ein Problem. Denn wo man etwas lobt, setzt man sich der Gefahr aus, ausgerechnet jenes Lager zu loben, welches man eigentlich kritisieren wollte, und umgekehrt. Und wenn man glaubt, weder zu kritisieren noch zu loben, so wie Kutzenberger und ich, tut man es irgendwie trotzdem. In Wels zeigt sich deutlich, dass es die Kategorie ‚unpolitisch‘ nicht gibt, oder sie sich aufzulösen beginnt, wenn die Gräben tief genug geworden sind.

Sollte Wels tatsächlich die Musterstadt sein, an der sich ganz Österreich orientiert, dann hoffe ich, dass sich das nicht auf die Politik bezieht [Anm. d. Red.: In Wels regiert seit 2015 die FPÖ], und fürchte ich, dass es gerade das in besonderem Maße tut. Wie also weiter schreiben in einem Welser Österreich? Vielleicht mit noch größerer Klarheit, mehr Sorgfältigkeit, und vor allem mit dickerer Haut. Wie die Welser Kulturszene, werden auch wir enger zusammenrücken, noch aktiver sein, noch sichtbarer. Und trotz allem nicht auf die Heiterkeit, die Leichtigkeit, die Rührseligkeit in der Literatur verzichten. Denn sie sind und bleiben unverzichtbar, in Wels wie anderswo.

¹Waren sie nicht.

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