Bilder aus Ungarn

Ich suche den Untergang, sagte Anikó, als es zu dämmern begann. Untergang, wiederholte sie und lachte, ich bin wirklich schon müde, lass uns schauen, wo man hier nach unten kommt. Die ersten Pflanzen blühten am Burgberg in Budapest, die Bäume begannen wieder, grün zu tragen. Es gibt keinen Frühling mehr, hatte jemand zuvor gesagt, wir haben nur noch Sommer oder Winter hier. Mit Sommerkleidung hatte der Tag begonnen. Ich sah ein Pärchen im Gastgarten auf der Andrássy út sitzen, kurzärmelig mit Sonnenbrillen, zwei Bier vor sich, Gösser Radler und Becks. In beiden Flaschen steckten Ungarnfähnchen. Die Fahnen wurden mehr, je näher ich dem Heldenplatz kam, ungarische vermischten sich mit Árpád und Szekler-Fahnen. Auf einer Trompete spielte jemand ein trauriges Lied, mächtig verstärkt hallte es über den Heldenplatz. Ein Mann sprach, ich verstand kein Wort, ich verstand, er war wütend. Zwei Polizisten standen an der Straßen-ecke, sie hörten zu und blickten in der Vormittagssonne gelassen auf die Menschenmenge. Die Stimme des Mannes war noch einige Zeit auf der Andrássy út zu hören, bis sie mit zunehmender Entfernung der Verkehrslärm verschluckte. Zwei Motorräder fuhren langsam die Straße entlang, sie waren mit Fahnen geschmückt.
Wenn die Polizei merkt, dass sie keine Chance hat, greift sie nicht ein, erklärte jemand später auf der Buchmesse. Die rechtsextreme Jobbik hatte zu der Kundgebung am Heldenplatz gerufen, unter dem Motto Gib Gas wollten Biker mit einem Korso den Marsch der Überlebenden zum Gedenken von Holocaust-Opfern begleiten.
Der Korso und die Jobbik-Veranstaltung waren verboten worden, am Heldenplatz versammelten sich trotzdem einige hundert Menschen. Wir saßen am Stand der deutschsprachigen Literatur, gegenüber den Büchern aus Israel. Draußen war Sommer, Kinder fütterten die Kois im Teich, sie zogen die Hand schnell weg, wenn die Fische ein paar Zentimeter aus dem Wasser kamen. Der Teich direkt vor dem Eingang zur Messe war ohne Fische, eine schmale Brücke führte darüber, achtete man nicht auf die Schritte, bestand die Gefahr, ins Wasser zu fallen.
In Debrecen wartete ich zwei Tage später am Bahnhof und sah den Einheimischen beim Hot Dog Essen zu, Tipp Topp GSM versprach ein Stand. Ich kaufte im Blumenladen eine Postkarte und fand mit der Verkäuferin keine gemeinsame Sprache, woraufhin sie laut und langsam auf Ungarisch erklärte, wo die nächste Post sei. Sie sprach lange, vielleicht erzählte sie auch etwas anderes, ich fühlte mich sehr wohl bei ihr im kleinen Bahnhofsblumenstand, dreißig Kilometer westlich der rumänischen Grenze. Ich schickte die Karte erst in Wien ab, sechs Stunden später. Wie kurz die Wege sind, dachte ich.

Anna Weidenholzer ist Autorin, lebt und arbeitet in Wien und Linz.
 

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