16 Zwanzixtl + 1

Wer hinter dem Titel des Buches hohe Algebra vermutet, darf sich getrost entspannen. Dieses Buch analysiert keinen mathematischen Term, sondern beleuchtet die bisherige Geschichte eines Festivals. Irgendeines Festivals? Ha! Das Open Air Ottensheim ist «– mit Sicherheit im österreichischen, im europäischen Vergleich wahrscheinlich – eine Ausnahmesituation, ein Ausnahmezustand». So beschreibt es Stefan Haslinger, einer von vier Gastautoren, die zu diesem Buch einleitende Worte gefunden haben. Während Haslinger in seinem Text Erklärungsansätze für die soziokulturelle Vitalität dieses «Boll-werk[s] des Understatements» bereit stellt, verortet Wolfgang Almer das Open Air in Vergangenheit und Gegenwart der österreichischen Festivalszene. Anatol Bogendorfer untersucht in essayistischer Manier die gesellschaftlich-geographischen Rahmenbedingungen des Open Airs – und Rainer Krispel attestiert geradewegs: «Alter, Alte – das ist Punk!»

Ja, das ist es. Auf seine eigene Weise. Auf jeden Fall ist das Open Air ein Beleg dafür, dass es anders geht. Dass viele Menschen gemeinsam etwas kleines Großes und wundervoll Widerspenstiges auf die Beine stellen können – in der vermeintlichen Provinz, jenseits der lieblos konzipierten Festivalgiganten mit ihrer Club-Urlaubs-Mentalität, gegen alle Profitlogik, immer wieder und das nicht erst seit gestern.

Vor 20 Jahren fand das erste Open Air Ottens-heim statt. Da seither allerdings «nur» 16 Open Airs stattgefunden haben, behandelt dieser Jubiläumsband eben «sechzehn Zwanzigstel» a.k.a. «16 Zwanzixtl». Und das «+1» aus der Titelzeile rührt von einer einmaligen Vorläufer-Veranstaltung, dem «Rock in Ottensheim» (1982). Das Buch holt also weit aus. Es setzt in den frühen 1980ern an und beleuchtet dort die Anfänge der D.I.Y.- und Subkultur in Ottensheim. Es gab nämlich auch eine Zeit vor dem JO, jenem legendären Jugendzentrum, in dessen Umfeld das Open Air 1993 schließlich entstanden ist. Die Schlaglichter, die auf die Frühzeit geworfen werden, sind ausgesprochen erhellend: Nicht immer ist ÖVP drin, wo ÖVP draufsteht. Oder besser: Darth Vader war auch mal ein komotter Kerl. Und zwar wohnt jedem Anfang ein Zauber inne, doch nichts wird ex nihilo herbei gezaubert. Die jungen Wilden, die das Open Air initiierten, konnten auf die Unterstützung der alten Wilden zählen – allen voran auf die ARGE Granit.

Nach den Einleitungstexten folgen insgesamt sieben umfangreich bebilderte Kapitel, die den Ablauf der Ereignisse bis ins Jahr 2013 verhandeln – in Form von collagierten Polylogen. Wer «Es muss was geben» von Andreas Kump kennt, weiß, wovon die Rede ist. Stefan Parnreiter-Mathys hat zahlreiche Gespräche mit ProtagonistInnen aus verschiedenen Generationen und Arbeitsbereichen des Open Airs geführt, hat aus diesen Gesprächen Zitate destilliert und so kompiliert, dass sie gemeinsam eine lebendige, multisubjektive Erzählung ergeben. Eine Erzählung, die auch Widersprüche und historische Unsicherheiten birgt, die jedoch bewusst nicht ausgeräumt werden.

Die Zitat-Montagen nehmen wichtige Wendepunkte und entscheidende Phasen in den Blick: etwa die Vorgeschichte, das erste Festival, den Beginn der Kooperationen mit Kapu und Stadtwerkstatt, die dreijährige Pause 2001 – 2003 (ausgelöst durch widrige politische Umstände und schwindende Ressourcen damals federführender Personen), der Neustart mit einer frischen Generation, das wetterbedingt abgesagte Open Air 2009 oder die kurzzeitige Vergrößerung (zwei Hauptbühnen 2010). Dass so eine Chronik fragmentarisch bleiben muss, ist klar. Und dass manche Stimmen nicht gehört wurden, die gehört werden sollten oder wollten, ist ebenso ein notwendiges Übel. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Stefan Parnreiter-Mathys gerade einmal drei Monate Zeit hatte, um eine Idee namens «16 Zwanzixtl + 1» druckreif zu machen. Vielleicht ist dieser Umstand auch mitverantwortlich für das Fehlen einer GastautorIN.

Der Wert dieses Buches ist nicht bloß ein lokalhistorischer. LeserInnen, die bloß einen losen Ottensheim-Bezug besitzen, werden mit den Namen der erwähnten Personen oder Orte vielleicht nichts anzufangen wissen. Doch der radikale Idealismus, die spezifischen Strukturen und Dynamiken, der Umgang mit Geschlechterrollen und das Zusammenspiel der Generationen haften nicht an Namen. Sie treten auch ohne Insiderwissen zu Tage. Um über Anekdoten lachen zu können und die Begeisterung nach-zuempfinden, muss man ebenfalls kein/e Ottens-heimerIn sein. Und vielleicht ist Ottensheim tatsächlich ein Freaknest sondergleichen und vielleicht besitzt die mittlerweile etwas überstrapazierte Rede vom «gallischen Dorf» sogar heuristische Kraft. Doch letzten Endes leben dort Menschen. Und von deren Aktionen und Reaktionen, Krisen und Erfolgen können andere Menschen lernen. So ist dieses Geschichtsbuch etwas geworden, das jedes Geschichtsbuch sein sollte: ein Instrument für die Gegenwart und eine Ermutigung für die Zukunft.

Stefan Parnreiter-Mathys
16 Zwanzixtl + 1: Die Open Air Ottensheim Geschichte 1993 – 2013
Hrsgin.: Verein Open Air Ottensheim, Eigenverlag
Juli 2013, ca. 160 S.,
«16 Zwanzixtl + 1» ist ab Anfang Juli in gut sortierten Platten- und Buchläden  (v.a. in Ottensheim, Linz und Wien) erhältlich bzw. auf der Website des vielleicht besten Festivals der Welt bestellbar. Freilich werden die Bücher auch am zwanzigsten Open Air Ottensheim (12. und 13. Juli) zu erstehen sein.

openair.ottensheim.at
 

 

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