Brexit in Birmingham

Thomas Philipp von der KUPF-Mitgliedsinitiative qujOchÖ über ihren Besuch in England.

„You are not the only country in Europe that is not a member of the European Union – there is also Russia. And Turkey.“ So lautete einer der Running Gags während unseres zweiwöchigen Aufenthalts in England. Von Ende Juli bis Anfang August waren wir mit unserer Kunstgruppe qujOchÖ ausgezogen, um uns in Birmingham auf die Spuren des österreichisch-britischen Philosophen Ludwig Wittgenstein zu heften. Dieser besuchte von 1903 bis 1906 die „K.u.k. Realschule“ in Linz und zog dann über Berlin und Manchester weiter nach Cambridge, um an der dortigen Universität unter Bertrand Russell zu studieren. Zu dieser Zeit lernte Wittgenstein auch den jungen Mathematikstudenten David Hume Pinsent kennen. Er entstammte einer angesehenen Familie aus Birmingham und war ein direkter Nachfahre des berühmten britischen Philosophen David Hume. Bei einem seiner Besuche der Pinsent-Familie in Birmingham diktierte Wittgenstein die so genannten „Notes on Logic“. Sie bildeten die Grundlage für eines der einflussreichsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts, den „Tractatus Logico-Philosophicus“.

Gründe genug für qujOchÖ, um mit GOODBYE WITTGENSTEIN in das Mutterland des EU-Austritts aufzubrechen und in zwei öffentlichen Vorträgen, mehreren Arbeiten im öffentlichen Raum und einer Pop-up-Ausstellung dem Leben und Wirken dieses Philosophen zu huldigen.

Thema #1 im irischen Pub und im Black-Cab-Taxi
„You got faraged!“ Das war unser zweiter Running Gag, wenn wir gefragt wurden, wie denn die Menschen in Österreich über das Brexit-Referendum denken würden. Die Verarschungsanspielung bringe ich gleich am ersten Abend bei einem Gespräch im Spotted Dog an, einem der ältesten irischen Pubs in der Stadt. Sean, 78 Jahre alt und Teil des Inventars, erzählt mir über die Gespaltenheit der irischen Gemeinschaft in Bezug auf das Referendum. Er meint, sein Umfeld sei eher für den Brexit gewesen. Als Grund führt er an, dass Irland in den letzten Jahren einfach von der EU zu viel „faraged“ wurde. Nach der Wirtschaftskrise 2008 und dem Zusammenbruch des Immobilienmarktes schlitterte der „keltische Tiger“ in eine tiefe Rezession. 2010 nahm Irland dann auf Druck der Europäischen Zentralbank einen hohen Notkredit auf. Viele Menschen in Irland sind davon überzeugt, dass davon vor allem ausländische Gläubiger profitierten, während die enormen Kosten des Rettungspakets von den irischen Steuerzahlerinnen und -zahlern getragen werden.

Gegen Mitte der ersten Woche finden wir uns nach einem unserer unzähligen Pub-Besuche in einem typisch englischen Black-Cab-Taxi wieder. Auf die Frage, woher wir kommen, entgegnen wir: „We are from Austria. We ski.“ Unserem nicht perfekten Englisch und dem einen oder anderen Guinness geschuldet, antwortet der Taxifahrer: „Ah! You like Whiskey?“ Herzliches Gelächter. Karim, so der Name des Taxifahrers, erzählt uns auf der Fahrt, dass er gegen den Brexit gestimmt habe. Zum einen aus wirtschaftlichen Gründen, zum anderen, weil vor allem migrationsfeindliche Tendenzen im Zuge des Votums eine tragende Rolle gespielt hätten. Bei einsetzendem Regen kommen wir an unserem Ziel an. Eigentlich ist ja das britische Wetter alleine schon einen Brexit wert.

Ein Schuss Depression für die englische Kunstszene
Am Sonntag zieht es mich wieder in den Spotted Dog. Das Birmingham Jazz Orchestra spielt, gefolgt von einer wilden Gitarren- und Schlagzeugeinlage zweier als spitzköpfiger Roboter und rosaroter Orang-Utan verkleideter junger Brummies (so werden Leute aus Birmingham im Englischen bezeichnet). Karolina, in deren Off-Space-Galerie unsere Pop-up-Ausstellung gezeigt wird, führt mich in ihren englisch-polnisch-irischen Freundeskreis ein. Wir bestellen eines der Uber-Taxis, die in Birmingham sehr populär sind: „You just have to push the Uber button in your app and the taxi will find you. That’s so easy, even if you are very drunk.“ Wegen Tracking und Überwachung machen sich die jungen Leute hier sowieso keine Gedanken. Die Dichte der Überwachungskameras in Birmingham ist höher als jene der Mistkübel in Linz.

Etwas später sitzen wir im Uber-Taxi und fahren irgendwo in die Suburbs zu Magda, die Lasagne gekocht hat. Unter dem Dutzend in ausgelassener Laune befindlichen Leuten vor Ort sind auch die Geschwister Springer (original Szprynger). Matthew und Noemi sind nicht nur trink-, sondern auch diskussionsfreudig. Matthew, ein 26-jähriger Siebdruckkünstler, ist vom Brexit-Votum „totally pissed“ – eine Einschätzung, die wir in dieser und ähnlicher Weise noch von vielen anderen Künstlerinnen und Künstlern in den nächsten Tagen hören. Er erklärt, dass beinahe niemand in seinem Umfeld in den Tagen vor dem Referendum mit einem derartigen Ergebnis gerechnet habe. UKIP und Farage seien ein großes Übel für das Land, die Conservative Party werde unter May noch schlimmer werden, die Labour Party unter Corbyn sei schwach und zerstritten und die LibDems ringen ihm nur ein müdes Lächeln ab. Seine etwas jüngere Schwester Noemi war in ihrer Schülerinnenzeit in kommunistischen Verbänden aktiv. Jetzt unterrichtet sie Bildnerische Erziehung an einer integrativen Volksschule. Sie ist in ihrer Meinung zum Austritt aus der Europäischen Union gespalten. Zwar sei diese ein hauptsächlich kapitalistisches und wenig demokratisches Gebilde. Trotzdem habe sie gegen den Brexit gestimmt, weil die Austrittsbestrebungen vor allem von den rechten Parteien und Medien vorangetrieben worden seien. Die beiden auflagenstärksten Zeitungen des Landes „The Sun“ und „Daily Mail“, die als „centre-right“ und „conservative“ beschrieben werden, fuhren zahlreiche Referendumskampagnen für ein „Leave EU“ und „Let’s take back control“.

Zwei Tage vor dem Referendum brachte etwa die Sun auf ihrer Titelseite folgende Schlagzeile: „Calais Migrant Riot: Let us in before you vote out – Illegals storm ferry port to UK!“ Unnützes Detail am Rande: Mit 1,8 Mio. Exemplaren hat die Sun exakt die doppelte Druckauflage der Kronen Zeitung. Irgendwo in der Mitte unseres Gesprächs meint Noemi, dass sie sich aus verschiedenen Gründen vor einiger Zeit aus dem politischen Geschehen zurückgezogen habe: „I think I am too radical for politics.“

Zum Schluss noch ein Schuss Depression
Am vorletzten Abend zieht es mich ein letztes Mal in den Spotted Dog. Wir haben die letzten Reserven Zwetschgen- und Birnenschnaps mit dabei, die wir unter das irische Volk bringen. Unterstützt werden wir dabei von Pete, einem britischen Medienkünstler und Fotografen, der im November gemeinsam mit drei anderen Brummies nach Linz kommt, um sich hier auf die Spuren von Wittgenstein zu begeben. Mitte Juli war er bei einem Workshop für „Experimental Capture“ in den USA unterwegs. Die Illusion, damit der Brexit-Depression zu entfliehen, wurde sehr schnell zerstört: „Every meeting with an American started with them commiserating me about the events in my country. It was an odd feeling. Remember, this is people living with Trump every day.“

Pete erklärt, dass das Referendum ein klassisches Beispiel für eine Trennung nach Schicht, Alter und Bildung sei. Für den Brexit waren vor allem Über-65-Jährige, Personen mit nur einem Pflichtschulabschluss (GCSE) und Angehörige der weniger qualifizierten „working classes“. Regionen mit einem hohen Migrationsanteil votierten übrigens eher für einen Verbleib in der EU. Auf meine Frage, was sich für ihn persönlich durch den EU-Austritt ändern würde, denkt Pete lange nach und meint dann: „My art has to change. It will become more political.“ Ich sehe ihn an und lächle ein stummes „Nice!“ in mich hinein.

Thomas Philipp bewegt sich zwischen Wissenschaft und Kunst. In Birmingham war qujOchÖ mit der Neigungsgruppe GOODBYE WITTGENSTEIN vertreten. Sie besteht aus Verena*Henetmayr, Andre Zogholy und ihm.

Foto: Zwei Drittel der Neigungsgruppe GOODBYE WITTGENSTEIN vor dem Spotted Dog in Birmingham. Credit: Thomas Philipp.

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