Antisemitisch sind immer die anderen!

Isolde Vogel diskutiert Antisemitismus und Schuldabwehr in der Kulturszene.

Am 7. Oktober 2023 beging die radikalislamische Hamas das größte Massaker an Jüdinnen*Juden seit der Shoah. Der Terroranschlag in Israel schockierte die Weltöffentlichkeit, doch aus der Kulturwelt hörte man zunächst wenig. Nicht das Massaker, nicht die Vergewaltigungen, nicht die Geiselnahmen und Leichenschändungen schafften Aufmerksamkeit in der sonst so politischen Szene. Auch nicht der in Europa steigende Antisemitismus. Stattdessen wurden Stimmen laut, die Antisemitismus verharmlosten, die Verbrechen bagatellisierten, teilweise sogar als „Freiheitskampf“, „Dekolonialisierung“ oder „Widerstand der Unterdrückten“ romantisierten.

Aus der Kulturszene nichts Neues

In den letzten Wochen war zu beobachten, was die „Solidarität mit den Unterdrückten“ bedeutet: Vor kurzem tauchte über Social Media ein ‚Index‘, eine international angelegte Blacklist auf, die „pro-zionistische“ Kulturinstitutionen weltweit listet, inklusive der Drohung: „Wir sehen euch!“ An der Berliner Universität der Künste gab es eine Aktion, in der Studierende ihre blutbeschmierten Hände in die Luft hielten – ein symbolträchtiges Bild, das an den antisemitischen ‚Lynchmord von Ramallah‘ erinnert. Das sind keine Einzelfälle, sondern traurige Realität eines palästinensischen ‚Widerstands‘, der sich nicht gegen die Hamas wendet, die in ihrer Charta offen vom Ziel der Vernichtung jüdischen Lebens schreibt.

Israelbezogener und antizionistischer Antisemitismus ist gerade in der liberalen Welt die gängigere und weniger sanktionierte Äußerungsform von Antisemitismus. Das liegt auch am Wegsehen und Relativieren. Überraschend ist das nicht, gehört Antisemitismus doch zur Kultur, ist alltäglich und anschlussfähig, besonders in seiner impliziten Form. Dass es in der Kulturszene immer erst einen Skandal braucht, um über Antisemitismus zu sprechen, wissen wir nicht erst seit der letzten Documenta [siehe Vogels Bericht in der KUPFzeitung #183, Anm. d. Red.], die bereits ihren Folgeskandal erlebt. Antisemitismusvorfälle in der aktuellen Findungskommission deuten das größere Problem an: Nicht die antisemitischen Vorfälle selbst werden Thema (selbst-)kritischer Auseinandersetzung, sondern die Benennung des Antisemitismus. Nichts Neues also angesichts dessen, dass über Antisemitismus im Kulturbereich (und anderswo) meist reaktiv gesprochen und mit Abwehr begegnet wird: Man kämpft gegen Antisemitismusvorwürfe – nicht gegen Antisemitismus.

Antisemitisch sind immer die anderen

Auch die damit einhergehende Täter*innen-Opfer-Umkehr ist leider nicht neu. Antisemitismus kommt immer als Widerstand daher, wird als Gegenwehr verstanden, als Reaktion auf Mythen, auf angebliche Genozide, auf Staatsgrenzen oder Weltverschwörungsfantasien. Der Nahe Osten dient als Projektionsfläche, „Israel“ oder „die Zionist*innen“ sind darin austauschbare Paraphrasen, die Angriffe aber richten sich gegen Jüdinnen*Juden. Mit Antisemitismus lässt sich alles Übel der Welt erklären. Und darin funktioniert er anders als Rassismus: Der Feind gilt nicht als minderwertig, sondern als übermächtig, als herrschend, kontrollierend und hinterhältig. Antisemitismus befriedigt Bedürfnisse der Schuldabwehr, schafft simplifizierende Erklärungen und bietet eine Erlösungsfantasie.

Aber in der linken, liberalen und ach so progressiven Kulturszene weiß man: Antisemitisch? Das sind die anderen! Dabei wird aktuell so deutlich wie selten, dass Antisemitismus gerade hier als Brücke dient, als Kitt, der auch vermeintlich progressive Gruppen Schuldkult-Parolen rufen, Poster entführter Israelis abreißen und weltanschaulich in einer Reihe mit Islamist*innen, Ku-Klux-Klan und Neonazis tanzen lässt.

Schweigen ist auch keine Lösung

Gegen Antisemitismus zu kämpfen, das sollte nicht nur in einem Land, in dem man vorgibt aus dem Nationalsozialismus gelernt zu haben, zum Selbstverständnis gehören. Besonders aber sollte es in der vorgeblich progressiven Kulturszene selbstverständlich sein. Das heißt: den eigenen Antisemitismus nicht weiter zu leugnen und zu verharmlosen, offen zu sein für (Selbst-)Kritik. Die Einseitigkeit abzulegen, Komplexität und Widersprüche auszuhalten und sich nicht der Polarisierung, sondern einem differenzierten Bild hinzugeben. Für das Leben und die Freiheit aller Menschen einzutreten und Werte der Selbstbestimmung ebenso hochzuhalten, wie das Ziel des Friedens und das Ende des Terrors nicht aus dem Blick zu verlieren. Das bedeutet auch, das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, unter dem Krieg sowie unter der Hamas, nicht zu negieren und trotzdem nicht zu schweigen, wenn Jüdinnen*Juden angegriffen werden.

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