Wovon lebt man hier eigentlich so?

„Die Kunst, die Wissenschaft und die christliche Religion, das sind die drei Scheißklosetts, auf denen die meisten draufsitzen.“ [1].  Die Nomadenetappe berichtet von einer Reise.

Warum man hier leben möchte oder es zumindest sehr gut für eine Weile aushalten könnte  liegt ja sehr bald auf der Hand, hat man erst einmal ein paar Tage in Sey∂isfjör∂ur verbracht. Der Künstler Dieter Roth jedenfalls hätte lieber ausschließlich auf Island gelebt und verbrachte anderswo Zeit lediglich, weil er dort Arbeiten verkaufen konnte. Da man aber versucht ist, die landschaftlichen Gegebenheiten auf die Lebensumstände zu übertragen, fragt man sich natürlich schon, wie man als Künstler hier so überleben kann, in diesem hintersten Winkel der selbst schon vom Rest der Welt eher abgeschiedenen Insel Island. Eine zufriedestellende Antwort ließ sich nicht finden. Dortigen KünstlerInnen zufolge allerdings sind die Fördermittel nach dem Finanzcrash von 2008 drastisch gekürzt worden.

Eigentlich ist hier kein Reisebericht geplant, sondern es soll um ein künstlerisches Projekt des Linzer Kunstvereins nomadenetappe [2] gehen, das in Zusammenarbeit mit dem isländischen Skálar Center for Sound Art and Experimental Music entstand, und in dessen Rahmen eine Gruppe von KünstlerInnen im Rahmen des Skálar Sound-Art-Festivals nach Island eingeladen war, um dort eine Ausstellung zu produzieren und Konzerte zu geben. Dazu aber erst später. Denn im Rückblick scheinen in den Arbeiten der Ausstellung geografische und topologische Gegebenheiten der Insel auf formaler oder inhaltlicher Ebene wieder auffindbar zu sein, zum einen als klare Bezugslinien, zum anderen in Form subtiler Sedimente. Deswegen schweifen die Gedanken also zunächst ab und widmen sich einigen fragmentarischen Erinnerungen an die Landschaft, gesammelt während eines kurzen Ausflugs in der näheren Umgebung.

Sey∂isfjör∂ur liegt an der Ostküste Islands. Der Blick ist in alle Himmelsrichtungen durch Berge begrenzt. Die homogene Szenerie, die sich einem darbietet, wenn man einfach den nächstgelegenen Hang hinaufsteigt, läßt diese Berge allerdings eher wie Erhebungen erscheinen. Es sieht dort oben nämlich nicht viel anders aus als unten: leer. Aufgrund fehlender anderer Anhaltspunkte wirkt das Gelände schwer durchmessbar. Hörbar ist diese karge Weite in Form einer über lange Strecken gleichbleibenden Klangkulisse: Wassergräusche wohin man geht. Auffällig sind die in verschiedenen Farben wachsenden Flechten und Moose. Letztere sind stellenweise erstaunlich hoch und dicht gewachsen. Trotz ihrer Fremdheit, ihres aufgrund des offensichtlich geradezu lebensfeindlichen Charakters bedrohlichen Wesens und ihrem würdevollen Desinteresse am Beobachter geht eine sogartige Anziehungskraft von der Landschaft aus. Man würde ihr wohl ohne Umschweife das Attribut „schön“ attestieren.

Diese ambivalente Stimmungslage verdeutlicht ein altbekanntes paradoxes Phänomen: Wir haben es mit dem „gemischten Gefühl“ [2] des Erhabenen oder Sublimen zu tun, dem wir Kant zufolge insbesondere bei der Konfrontation mit bestimmten Naturphänomenen begegnen und das sich aus den beiden sehr gegensätzlichen Gefühlsmomenten der Unlust und Lust zusammensetzt. Für Unlust bei dem/der BetrachterIn sorgt zunächst das Scheitern der Einbildungskraft an den sie bestürmenden Eindrücken. Als sinnliches und endliches Vermögen ist sie z.B. angesichts der unermesslichen Größe eines Gegenstandes nicht mehr in der Lage, diesen in seiner Ganzheit zu erfassen. Nun kommt die Vernunft ins Spiel, um der scheiternden Einbildungskraft Beistand zu leisten. Das Gefühl des Erhabenen entsteht nämlich erst in dem Moment, in dem der/die BeobachterIn auf die Frustration, die er/sie durch die Übermacht der Natur erleidet, mit einer Erhebung über das Sinnliche im Bewußtsein des eigenen intelligiblen Vermögens, dem selbst die Übermacht der Natur nichts anhaben kann, reagiert und daran Lust empfindet [3]. Charakteristisch für das Sublime ist darüberhinaus der Bruch mit herkömmlichen ästhetischen Regeln hin in das Feld einer ambivalenten Ästhetik des Irregulären: einerseits der wilde Überfluss des Camp [4] und andererseits der strenge Mangel durch Absenz jeglicher Reize. Das ist aus einem bestimmten Grund interessant: Während Camp sein landschaftliches Pendant im undurchdringlichen Dschungel findet, ist die ästhetische Kategorie der Absenz bezeichnend für die spartanische Landschaft Islands.

Einige Aspekte der beschriebenen Assoziationen lassen sich durchaus in den Arbeiten der Ausstellung wieder entdecken. So gibt es z.B. einen direkten Bezug in den Arbeiten von Wolfgang Dorninger, Reinhard Gupfinger und Doris Prilic. Die außerhalb der Halle verorteten Arbeiten interagieren umittelbar mit der Umgebung, indem sie ihr anderwo geborgte Klänge (und teilweise Objekte) zur Verfügung stellen, die das Moment des Eindringens vermeintlich zweckfreier Klänge (und Objekte) in einen ihnen fremden Kontext markieren und damit auf das Potential des Imaginären verweisen. Andreas Kurz und Enrique Tomás gehen den entgegengesetzten Weg, indem sie die Klänge der Umgebung unmittelbarer in ihre Arbeiten einfließen lassen und sie einerseits zu einer subjektiv-enigmatischen Soundcollage verarbeiten (Kurz), oder eine über GPS-Tracking erfahrbare Soundwalk-Komposition erstellen (Tomás). Ewald Elmecker, Katharina Loidl und Sun Obwegeser befassen sich mit geologischen Phänomenen der Insel und übersetzen diese in installative Arbeiten, in denen sie mit teils spielerischen, teils pseudowissenschaftlichen Gesten operieren.

Sehr wissenschaftlich hingegen geht André Zogholy vor, der Foucaults Begriff der Heterotopie – insbesondere die Insel diente Foucault zur Veranschaulichung seiner Theorie – hörbar macht, indem er die Interaktion von Klang und Raum unterbindet, so als wolle er die Antithese zur Weite Islands erklingen lassen. Die erwähnten subtilen Sedimente lassen sich in den anderen Arbeiten entdecken. Wolfgang Fuchs und die Gruppe faxen bedienen sich einerseits der konzeptuellen Praxis der Bricolage (Fuchs) und andererseits der aleatorischen Kompositionstechnik John Cages (faxen), um Arbeiten zu schaffen, die sich in ihrer Ereignislosigkeit als Soundtrack der Insel verstehen ließen (vielleicht gibt es hier Potential für eine neue Nationalhymne): Wiederholung und Differenz in der Auslaufrille der Welt. Apropos Ende der Welt: Hier stoßen wir auf die Visionen von Christian Stefaner-Schmid und des Künstlerduos thusandhence (Jakob Dietrich und Kai Maier-Rothe), deren Szenarien einer durch Maschinen beherrschten oder vom Spektakel des Konsums befreiten Welt in der Landschaft Islands ihr ideales Bühnenbild finden. Die KünstlerInnen von Ekw 14,90 (Moke Klengel, Christoph Rath, Marlies Stöger und André Tschinder) schließlich sinnieren über die Frage, inwieweit die im Rahmen der Voyager-Mission auf goldene Schallplatten gepresste und in die Leere des Alls transportierte Information bei ihrer Entdeckung noch repräsentativ für die Menschheit sein kann – eine Frage, der man sich gut bei einem ausgedehnten Spaziergang durch Islands Leere widmen kann. Diese rudimentäre Beschreibung der Arbeiten wird ihrer Komplexität naturgemäß keinesfalls gerecht. Zur weiteren Lektüre sei deshalb der über nomadenetappe beziehbare Katalog zur Ausstellung empfohlen.

Die BesucherInnen der Eröffnung des Festivals mussten sich aufgrund der isländischen Gesetzeslage, die den Verkauf von Alkohol streng reguliert und es unerschwinglich macht, selbigen in den für hiesige Eröffnungen typischen Mengen auszugeben, wenige Flaschen Wein teilen. Die Stimmung aber hätte erhabener nicht sein können.

 

Mit dem Projekt „Smoke Adaptive Processing“ wird die Zusammenarbeit mit Skálar – Center for Sound Art and Experimental Music in Sey∂isfjör∂ur im Oktober 2014 in der Tabakfabrik Linz fortgeführt. Eine Ausstellung und einige Konzerte sollen dann einen Querschnitt durch zeitgenössische nordische Sound Art in Linz präsentieren.
 

  • [1] Dieter Roth / Barbara Wien, Der Mensch kauft Ablaß und macht’s an die Wand, in: Tip, 7/85, S.66, Berlin 1985
  • [2] Friedrich Schiller: Über das Erhabene, in: Sämtliche Werke in 5 Bänden, Bd. V, München o.J., S. 218. Zitiert nach Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Grössenwahn, Weimheim: VCH, Acta Humaniora, 1989
  • [3] Christine Pries, 1989, S. 8Ff
  • [4] Sontag, Susan [1964]: Anmerkungen zu Camp, in dies.: Geist als Leidenschaft. Ausgewählte Essays zur modernen Kunst und Kultur, Leipzig, Weimar: Kiepenheuer, 1990, S. 337

 

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