von Vina Yun
Ein Nachtrag zum 1. Mai: In den letzten zehn Jahren hat sich insbesondere in den europäischen Industriestaaten ein Diskurs entwickelt, der unter dem Schlagwort der »Prekarisierung« die zunehmend von sozialer Unsicherheit geprägten Arbeits- und Lebensverhältnisse skandalisiert und zum Ausgangspunkt für widerständige politische Kämpfe macht. Wie schon die Jahre zuvor zog auch heuer die »Parade der Prekären« am Tag der Arbeit durch die Straßen Wiens: »Krrrrrise? Mayday!« Um einiges älter als der Begriff der »Prekarisierung « ist jener der »Informalisierung«, wie er im Kontext der Entwicklungstheorie verwendet wird. Seit seiner »Entdeckung« vor gut 40 Jahren ist das Phänomen der »informellen Wirtschaft« und seine Bedeutung in der ökonomischen Entwicklung Gegenstand kontroverser Diskussionen. Obwohl beide Begriffe auf ähnliche Zustände (etwa nicht oder unzureichend geschützte Arbeitsarrangements oder ungenügende soziale Absicherung) verweisen, fällt auf, dass »Prekarisierung« und »Informalisierung« in der Regel getrennt voneinander diskutiert werden. Die wenigen Versuche, die zwei Diskursstränge miteinander zu verbinden, kommen vorwiegend von feministischen Stimmen: Ähnlich wie »prekäre« und »atypische « Arbeit im globalen Norden aus einer gegenderten Perspektive nur bedingt als genuin neue Entwicklung verstanden wird – so stellt für Frauen die Nicht-Standardbeschäftigung (insbesondere die Teilzeitarbeit) schon seit längerem eine Realität dar und wird zu einer für sie zunehmend kennzeichnenden Form der Beschäftigung –, ist auch die informelle, ungeschützte Arbeit im globalen Süden nicht die Ausnahme, sondern gesellschaftliche Normalität. Oder wie es die Soziologin Christa Wichterich formuliert: »Die Mehrheit der Weltbevölkerung ist nie aus dem Prekariat herausgekommen.« Sowohl Informalisierung als auch Prekarisierung werden über ihren Abstand zum sog. »Normalarbeitsverhältnis« definiert – »normal arbeiten« steht dabei für die traditionelle »Vollbeschäftigung des weißen Ernährers«, einem patriarchalen, klassenspezifischen und letztlich auch kolonialen Modell. Es ist sicher kein Zufall, dass die Debatte über das neue »Prekariat« in den Ländern des Nordens just in jenem Moment einen Aufschwung erlebte, als sich auch weiße männliche Erwerbstätige zunehmend mit flexibilisierten und deregulierten Arbeitsverhältnissen konfrontiert sahen. Arbeitsbeziehungen, wie sie in den Ländern des Südens beobachtet wurden, breiten sich nun zunehmend auch im globalen Norden aus. Angesichts dieser »Globalisierung von Unsicherheit«, wie es die Politologin Birgit Mahnkopf nennt, sollte daher auch das zum erklärten Ziel werden: die Globalisierung arbeitsrechtlicher Kämpfe.
Vina Yun ist Redakteurin beim feministischen Monatsmagazin »an.schläge« (www. anschlaege.at) sowie bei migrazine.at, dem »Online-Magazin von Migrantinnen für alle«.