Balkan? Balkan!

David Guttner auf Balkanreise.

 

Genaugenommen liegt Cluj nicht am Balkan. Das rumänische Cluj-Napoca (ungarisch Kolozsvár, deutsch Klausenburg) liegt in Transilvania, Erdély oder Siebenbürgen, je nach Sprachgebrauch. Jedenfalls zählt dieses Transsilvanien laut der gemeinhin geltenden Definition nicht zum Balkan. Der endet nämlich im Norden an der Save-Donau-Linie, manche Quellen geben auch die Luftlinie Triest-Odessa an.

Die tanzenden Bits Cluj gehört also nicht zum Balkan. Selbst wenn das Istvan Szakats hartnäckig behauptet. Der studierte Informatiker ist Organisator und Kurator des e-tribal art, feast of the digital, einem viertägigen Mittelding aus Festival und Ausstellung, das seine Premiere am 19. Feburar dieses Jahres in einer alten Fabrik im Clujer Industrieviertel erlebte.

Die digitalen Feiertage für die Stammesangehörigen der tanzenden Bits beschreibt Istvan Szakats folgendermaßen: »What are the chances of artists to bring their work to a tribe? What strategies can we develop to optimize the art discourse for this context? Can we develop works, can we figure out channels to launch our message in, what difference can we make by spreading these artworks in an electronic tribe? The project makes artists and audience aware that pioneering in the vast unexplored territories of the e-tribes opens a global potential of getting the message across. It’s as if you just discovered fire, and you are dancing around the fire. We’re now dancing around the bits!« Das klingt nicht unspannend. Gerade für jemanden wie mich, dessen digitale Entfaltungsmöglichkeiten beim Gestalten diverser Soundfiles beginnen und bei deren korrektem Upload auf noch diversere Server enden.

Jugoslawien ist tot. Es lebe Jugoslawien! Auf und nach Cluj bin ich über Stojan Vauti und Alexander Nikolić vom Hor dvadeset deveti Novembar gekommen. Der 29. November 1945 war der Gründungstag der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien. 1969 hob sich am nunmehrigen jugoslawischen Staatsfeiertag der erste jugoslawische Arbeiterclub Wiens aus der Taufe, und 40 Jahre später war das Datum Anlass, um den Chor 29. November erstmals erklingen zu lassen, quasi unter dem Motto »Omen est Nomen«.

Wie die meisten Mitglieder dieses Gesangskollektivs hat Alexander Nikolić seine Wurzeln am serbischen Balkan. Seine Familie stammt aus Kragujevac, einer südserbischen Industriestadt, der große Automobil- und Waffenhersteller Zastava (verantwortlich für den legendären Yugo) hat hier seinen Sitz. Alexanders Vater wurde aufgrund seiner radikal-anarchistischen Haltung gegenüber der jugoslawischen Staatsdoktrin auf der berüchtigten Gefängnisinsel Goli otok inhaftiert(Österreich-Ungarn hatte dort während des 1. Weltkriegs bereits ein erstes Kriegsgefangenenlager errichtet). Neben wirtschaftlichen Überlegungen war die Auswanderung nach Österreich eine Konsequenz dieser Inhaftierung. Alexander Nikolić wurde 1973 in Wien geboren. Erst durch die Punzierung als Serbe während der Balkankriege begann Jugoslawien für ihn zu einem wirklich relevanten Thema zu werden. Seine Konsequenz auf den jugoslawischen Verfallsprozess war es nicht, die »serbische Position« einzunehmen, sondern auf Konfrontation mit seinem Vater zu gehen und sich auf die positiven Traditionen Jugoslawiens zu besinnen: »Die drei jugoslawischen Grundpfeiler«, meint Nikolić, »Antifaschismus, militanter Atheismus und Brüderliche Einigkeit! « Und das zu einem Zeitpunkt, dem Titos Vielvölkerstaat schon Geschichte war. Die Aktivitäten des Hor 29. Novembar fokussieren sich auch stark auf das digitale Netz und stellen eine künstlerische Ausformung des Versuchs dar, ein zumindest virtuell existierendes Jugoslawien zu generieren. Zudem ist es eine Maxime des Chors, ein offenes, soziales Projekt zu sein, teilnehmen kann somit wer will. Die Gründungsintervention am 29. November 2009 vor dem ehemaligen Vereinslokal des jugoslawischen Arbeiterclubs in der Ottakringer Menzelgasse hat dem Chor schließlich die Einladung zu e-tribal art beschert. So wurde in Cluj ein Video dieser Performance gezeigt, es trat auch eine Abordnung des Chors in verfremdeten Arbeitsoverall-Uniformen auf (unterstützt von einem aus Wien »hinzugeskypten« Dirgenten), um eine Auswahl von Partisaninnen- und Arbeiterinnenliedern zum Besten zu geben.

Verortung, Teil II Cluj/Klausenburg ist nach Bukarest und Temeswar die drittgrößte Stadt Rumäniens. Die Einwohnerinnenzahl divergiert zwischen 310.000 (offiziell) und 450.000 (inoffiziell) in Cluj lebenden Menschen. Diese auffallende Diskrepanz lässt sich nur zum Teil durch die Anwesenheit von zehntausenden Studentinnen erklären, welche (neben sechs anderen Instituten) die Babeş-Bolyai-Universität in Cluj besuchen, die als eine der wichtigsten in Ost- und Mitteleuropa gilt, und auf der in drei Sprachen unterrichtet wird (rumänisch, ungarisch und deutsch). Diese Multilingualität spiegelt die bewegte Geschichte der Karpatenmetroploe wieder, die wechselweise unter österreichischem, ungarischem und rumänischem Einfluss stand. Die deutschsprachigen Siebenbürger Sachsinnen spielen gegenwärtig, wenn überhaupt, nur eine marginale Rolle, der ungarische Bevölkerungsanteil in Cluj beläuft sich immerhin noch auf ein gutes Fünftel aller Einwohnerinnen. Kommt man über den ungarischen und rumänischen Landweg nach Cluj, so fällt eines sofort auf: Cluj ist wohlhabend! Selbstverständlich in Relation zum transsilvanischen Umland und vermutlich auch nicht alle Teile der Stadt. Es wird aber relativ schnell offensichtlich, dass man sich in einer, wenn nicht der wirtschaftlichen Metropole Nordrumäniens befindet. Und das nicht nur anhand der vielen Cafes, renovierten Gebäude und des für rumänische Verhältnisse sehr pfleglich behandelten Straßennetzes. Cluj zieht Menschen aus ganz Rumänien an, aus dem Banat, der Walachei, aus dem Moldau- und Donaugebiet. Gründe, Cluj zu verlassen gäbe es hingegen wenige, wie mir nicht nur einmal an diesem Wochenende erklärt wurde. »Und Bukarest, Budapest?«, »Bukarest und Budapest liegen auf anderen Kontinenten.«, so einer der e-tribal art-Mitarbeiter, auf meine scheinbar naive Frage.

Balkan! Über ein dutzend Künstlerinnen aus West-, Mittel- und Osteuropa, aus Nord- und Südamerika nahmen an den e-tribes teil. Darunter die Chattheaterspielerin, Netzkünstlerin und digitale Territoriumspflegerin Susanne Bekenheger aus Deutschland, James Powderly vom britisch-amerikanischen Graffiti Research Lab oder die digtialen Aktivistinnen der Initiative Übermorgen.com aus Wien. Bei der Auswahl der verschiedenen Projekte war es dem Kurator Szakats wichtig, ein breites Spektrum der verschiedenen Auseinandersetzungen mit den Auswirkungen der digitalen Welt auf die Zivilisation zu zeigen.

Istvan Szakats gehört der ungarischen Sprachgruppe an und kommt aus einem kleinen Dorf in den Ostkarpaten. Während seines Informatikstudiums spezialisierte er sich auf artificial intelligence. Seit 10 Jahren beschäftigt er sich über die in Cluj ansässige AltArt Foundation mit den Konfrontationen, die sich im Grenzbereich zwischen Gesellschaft, Technologie und menschlicher Existenz ergeben. Das Jahresbudget der AltArt Foundation beläuft sich auf 200.000,- Euro und wird zu großen Teilen durch EU- und nationale Mittel gespeist (auch private Investorinnen spielen eine Rolle), sehr wenig kommt hingegen von der Stadt Cluj selbst. Das spiegelt sich auch in der Reputation wieder, auf welche die Foundation laut Istvan Szakats verweisen kann: die sei international groß, im lokalen Kontext werde man hingegen kaum wahr genommen. Szakats bemüht für die Produktionsbedingungen vor Ort einen Vergleich aus der Fußballwelt: »Ein ungarischer Trainer des rumänischen Nationalteams hat den rumänischen Fußball einmal so beschrieben: ‹Romanian footballplayers are lazy bastards, but they have genius improvisative moments.›« Genauso funktioniere subversive Kulturarbeit in Rumänien: »Everybody is unreliable, everybody makes the things in the last minute, plus one minute, everybody is improvising all the time, everybody is camouflaging.« Dies sei ein großer Unterschied zu den zwei großen Pfeilern der europäischen Kulturgeschichte, nämlich der deutsch-protestantischen Ethik mit ihrer akribischen Tüchtigkeit und Genauigkeit auf der einen und einer französischen Überheblichkeit, die von großer Rhetorik und viel Blablabla geprägt ist, auf der anderen Seite. Die Mentalität am Balkan ist für Szakats die dritte Säule: totale Improvisation, man schleudere irgendetwas im letzten Moment hinaus, und beansprucht dabei für sich, Ultimatives geleistet zu haben. Der zweite große Unterschied liegt für den digitalen Aktivisten in der jüngeren Geschichte: Nach 1989 musste man sehr schnell dazu lernen. Man konnte sich vieles von dem, was sich im Westen langsam entwickelt hatte, nicht »leisten«. Zum Beispiel die »trashy, postindustrial, decadent youth – no times for that.« So habe sich eine gewisse infantile, jugendliche Faszination gerade für neue, digitale Techniken entwickelt, oder erhalten, je nach Gesichtspunkt. Man lebe so etwas wie die Renaissance, oder den Barock oder die klassische Periode dieser neuen Technologien, jeweils abhängig von dem Kontext, in dem man sich bewegt. Wenn es um die Akzeptanz seiner Arbeit beim Publikum geht, unterscheidet Istvan Szakats die Herz- und Hirnperspektive: »Das Hirn sagt: ‚Es ist OK, wir generieren den Diskurs innerhalb eines Kunstkontextes, und dieser Kontext wiederum legitimiert den Diskurs.’ Aber das Herz pocht populistisch, blutet für eine große Öffentlichkeit. Ich schäme mich immer dafür, wenn wir einen Diskurs produzieren, der nicht für ‹normale› Menschen übersetzbar ist. Wenn beispielsweise Freundinnen von mir kommen, die einfache Konsumentinnen moderner Kunst sind, und die mich, angesichts dessen, was wir hier machen, fragen: ‚What the fuck is this?’, erwidert mein Hirn: ‚Well, this is it! This is an artcontext, an artdiscourse, and they should learn to use the language, that will legitimate them to speak within this ‹régime de verité›.’Aber mein Herz sagt: ‚Oh, I’m sorry, I fucked it up!’ Wenn wir dann Projekte machen, die bei den meisten Leuten ankommen, ist mein Herz zwar glücklich, aber mein Hirn entgegnet: ‚Scheiße, wir haben es Ihnen zu einfach gemacht!’ Das liegt aber in der Natur dieser Projekte: Sie arbeiten mit äußerst zeitgenössischer Technologie, und packen ebenso zeitgenössische Probleme an. Sie gehen weit darüber hinaus, was die durchschnittlichen Leute generell akzeptieren. Die meisten dieser Projekte zeigen nicht, was Morgen sein wird. Sie zeigen, was nach dem morgigen Tag sein wird. Und das übersteigt so manchen Horizont. Das ist ein Problem für mich: den richtigen Punkt zwischen diesen beiden Extremen zu finden.«

Social Guerilla Ein großes Anliegen von Istvan Szakats ist ein künftiges Projekt namens »Social Terrorism«: Dabei soll eine Art virtuelles Kaufhaus entstehen, gewissermaßen eine Internetbörse für sozial-terroristische Projekte. Vergleichbar der e-bay-Methode: Man loggt sich ein, kann in unterschiedliche Projekte investieren, und die so finanzierten Projektträgerinnen setzen ihre subversiven Tätigkeiten um und berichten wiederum darüber. Generell gehe es bei dieser »Social Guerilla« darum, an dem Prozess der Transformierung der repräsentativen Demokratie hin zu einem partzipativen System mitzuwirken. Stellt sich die Frage, wie man ein Projekt, dass nach gegenwärtigen rechtlichen Auffassungen ein in weiten Teilen illegales ist, potenziellen Investorinnen schmackhaft machen könnte? »Gar nicht«, meint Istvan Szakats, »das muss gewissermaßen aus dem Untergrund selbst entstehen.« Und unabhängig von rechtlichen Fragen gelte speziell in Rumänien noch immer das Prinzip »Wes Geld ich nehm’, des Lied ich sing’«. Das ist eben auch der Balkan.

Weblinks: www.altart.org, www.etribalart.net, http://29novembar.postism.org

David Guttner ist gelernter Holzarbeiter und im Vorstand der KUPF. Lebt in Wien und durchkreuzt Oberösterreich regelmäßig.

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