Ein interkulturelles, feministisches Medienprojekt (Radio/Video) in Nicaragua. Eine außergewöhnliche Reise im Aktuellen verhaftet, in der Vergangenheit verankert und mit Zukunftsperspektiven durchwachsen …
Nicaragua ist ein von der Geschichte gebeuteltes Land mit Aufsehen erregenden Sternstunden der Hoffnung. Beginnen wir mit Augusto César Sandino, »DER« Freiheitskämpfer Nicaraguas. Reist man durch dieses Land, begleitet einen sein Abbild überall. A. Sandino nimmt 1926 den Kampf gegen die in Nicaragua stationierte US-Besatzungsmacht auf. Seine Streitmacht, anfangs ein kleines Grüppchen von 30 Soldaten, wächst binnen kürzester Zeit auf Tausende Widerstandskämpfer an. 1933 – 7 Jahre später – müssen die US-Truppen das Land verlassen. Kurz jedoch ist der Sieg und die Freiheit für Nicaragua, denn 1934 – ein Jahr später – wird Augusto César Sandino ermordet. Die Familienherrschaft der Somozas beginnt und mit ihnen folgen 43 Jahre Diktatur in Nicaragua. 1961 – 27 Jahre sind seit Sandinos Tod vergangen – gründet Carlos Fonseca die FSLN, Frente Sandinista de Liberación Nacional, kurz Frente Sandinista genannt. Eine revolutionäre Bewegung gegen die Diktatur der Familie Somoza.
Die Frente Sandinista benennt sich nach A. Sandino und beruft sich auf seine Ideen des Guerillakampfes. Die Frente Sandinista ist jahrelang nur eine kleine Gruppe. Erst durch die Allianz zwischen Bürgertum und oppositionellen Organisationen wird ihr Kampf erfolgreich. Am 17. Juli 1979 muss Anastasio Somoza das Land verlassen und 2 Tage später ziehen die siegreichen Freiheitskämpferinnen in Managua ein. Die nicaraguanische Revolution hat gesiegt. Doch der Siegestaumel, ein neues Nicaragua zu gestalten, dauert nicht lange. Kaum Taten gesetzt – bricht 2 Jahre später – 1981 – der Contrakrieg aus, der 9 Jahre anhält. Eine Solidaritätswelle zu Nicaragua, zur sandinistischen Revolution wird ausgelöst. Linke Bewegungen aus aller Welt, darunter auch viele Europäerinnen und auch Österreicherinnen kommen nach Nicaragua, um zu unterstützen und beim Wiederaufbau zu helfen. Daniel Ortega, früherer Guerillaführer der FSLN, stellt den 1. Präsidenten Nicaraguas nach der Somoza Diktatur und regiert zur Zeit des Contra Krieges bis 1990.
Das nicaraguanische Volk, kriegsmüde und enttäuscht vom Regierungskurs der FSLN, wählt 1990 mit Mehrheit eine Oppositionspartei. Ab nun spricht man vom Ende der Revolution. Die neue Regierung erklärt offiziell das Ende des Bürgerkrieges, die USA hebt das Wirtschaftsembargo über Nicaragua auf. Aktuell – seit 2006 ist Daniel Ortega (FSLN) wieder Staatspräsident von Nicaragua. Auf Stimmenfang geht er, indem er sich u.a. mit der katholischen Kirche verbündet. Aus diesem Pakt entsteht ein inhumanes Gesetz, dass die ohnehin schlechte Situation der Frauen Nicaraguas ein Jahrhundert zurückwirft: das Verbot des therapeutischen Schwangerschaftsabbruches.
»Soy la mujer de mi vida« – »Ich bin dieFrau meines Lebens« ist der Titel des 7-teiligen Radio Specials von Helga Schager von SPACEfemFM Frauenradio und macht hörbar was wir in Nicaragua erfahren haben: mutige, engagierte Frauenaktivistinnen, die zu Tausenden auf die Straße gehen, um zu demonstrieren, um gegen das Verbot des therapeutischen Schwangerschaftsabbruches zu rebellieren und lautstark ihre sexuellen und reproduktiven Rechte einfordern. Auf den Spuren der Frauenbewegung wird schnell klar, die Geschichte der Revolution/ der Aufstand des nicaraguanischen Volkes ist tief in ihrer Seele verwurzelt und gekoppelt mit Trauer und Sehnsucht. Der Kampf der Frauenaktivistinnen speist sich aus dem Wissen »Revolution ist machbar« und stärkt ihren Mut und ihr Engagement. In einer 6-wöchigen Reise (Februar/März 2010) – quer durch Nicaragua – fangen wir »starke Stimmen« von Aktivistinnen ein, aus Kunst und Kultur, Medienfrauen, Frauen in Politik und Gesundheitsbereich; indigene Frauen, die sich kein Blatt vor dem Mund nehmen und der Gefahr von Repressionen nicht aus dem Weg gehen.
Tagebuch: (ein Auszug) Am 11. Februar 2010 brechen wir auf von Linz (10 Grad Minus) nach Managua, der Hauptstadt von Nicaragua und werden binnen 24 Stunden auf 35 Grad plus aufgeheizt. Wir tauchen ein in das »heiße, wunderschöne Nicaragua« und kommen 6 Wochen vom Staunen nicht mehr heraus. Kamera und Mikro haben selten Verschnaufpause und unsere tollen Kontakte in Nicaragua öffnen uns viele Türen. Kaum akklimatisiert bekommen wir durch unsere Hartnäckigkeit am dritten Tag nach der Ankunft unser erstes Interview mit der viel umschwärmten, weltberühmten Schriftstellerin/Poetin/ Revolutionärin Gioconda Belli in Granada. G. Belli beteiligt sich ab 1970 am Widerstandskampf der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) gegen die Somoza-Diktatur. Sie gehört zu den bekanntesten Schriftstellerinnen des lateinamerikanischen Kontinents und ihr Werk ist Teil der feministischen Weltliteratur. Wie in so vielen – sagen wir in den meisten Staaten dieser Welt – ist auch in Nicaragua die Geschichtsschreibung großteils männlich besetzt, G. Belli hat mit ihrer Literatur dazu beitragen, dass auch die COMPAÑERAS, die Widerstandskämpferinnen der Sandinistischen Befreiungsfront, eine Präsenz in der Weltöffentlichkeit erfahren und in die Geschichtsschreibung eingehen.
Eine Woche nach Ankunft Aufbruch nach Bocana de Paiwas, zu der autonomen Frauenradiostation »Palabra de Mujer« (Das Wort der Frau) – ein Höhepunkt unserer Projektreise. Die Reise zum Frauenradio nach Paiwas wird zum Abenteuer – wir werden zum ersten Mal mit den üblichen Straßenverhältnissen Nicaraguas konfrontiert … gewaltig große Schlaglöcher im Asphalt erfordern einen Zick-Zack Kurs. Kurz vor dem Ziel hört der Asphalt überhaupt auf, wir befahren eine Erdstraße, wo sich zu den Schlaglöchern noch riesige Steine gesellen … nach 6-stündiger Fahrt – 230 km wurden zurückgelegt – erreichen wir unseren Zielort. Das Besondere an dieser Radiostation ist, dass die Frauen sowohl Betreiberinnen & Besitzerinnen sind. Durch den Umstand, dass sie die einzige Radiostation in der Region sind, haben sie das Monopol, viel gehört zu werden. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten für die Frauen: Entweder sie hören zu oder sie schalten ab. Das Resultat sehen wir nur in ihren Handlungen« sagt uns Celia Contreras, eine der Gründungsfrauen von Palabra de Mujer. Die Gründungsfrauen Jamileth Chavarría, Esperanza Oporta Morán, Celia Contreras und ihre jungen Nachfolgerinnen Sheyla Gonzalez und Carolina Mediner Castellón geben uns Einblicke in ihre Arbeitsfelder, Strategien und ihren Alltag. Bevor die Radiostation ins Leben gerufen wurde, arbeiteten sie bereits für die »Casa de la Mujer« (Haus der Frau), ein Gesundheitsund Ausbildungszentrum. Das Radio ist das Sprachrohr der »Casa de la Mujer«. In gemeinsamen Workshops und Aktivitäten wird praktisch erlebt, was im Radio theoretisch On Air geht. Wieder zurück in Managua treffen wir uns mit Patricia Orozco, eine bekannte Journalistin aus Print und Radio. Wir fragen sie nach der Darstellung der Frauenaktivistinnen in den Medien. Die Journalistin erzählt uns, dass sie kaum bei regierungstreuen Medien ein Sprachrohr bekommen und selten eingeladen werden. Die Medienlandschaft in Nicaragua ist zum größten Prozentsatz schon in den Händen der Regierung (Italien lässt grüßen), aber die Frauenaktivistinnen kreieren ihre eigene Medienlandschaft und lassen sich nicht aufhalten. Durch ihren Bekanntheitsgrad und ihr Engagement sind Patricia und auch ihre Kolleginnen enormen Druck ausgesetzt. Sie selbst musste schon Repressionen seitens der Regierung erleben, die sich in gewalttätigen Übergriffen und entwürdigender Behandlung äußerten und eigentlich ist sie ein bisschen verwundert, dass sie noch berichten darf.
Unsere Projektreise zu den Frauenaktivistinnen und Künstlerinnen Nicaraguas steht von Beginn an auf einem »Glückstern«. Wir bekommen auch die bekannte Folklore-Sängerin Norma Helena Gadea vors Mikro. Die Sängerin hat während des Contra-Krieges Seite an Seite mit den Sandinistinnen an der Front gekämpft und mit ihren Liedern angefeuert. Ihre Enttäuschung ist jetzt groß, dass dieselben Menschen, die damals für die Ideale der FSLN kämpften und aktuell wieder an der Macht sind, wider ihre damalige Gesinnung handeln und mit Korruption und Repression regieren.
Die Musikerin »La Baca Loca« (Die verrückte Kuh) wird uns immer wieder ans Herz gelegt. Wir beginnen ihren Konzertplan zu verfolgen und bekommen Gabriela Baca in Granada vors Mikro. Eine spannende, kreative und schräge Musikerin und Entertainerin – wir denken, wir haben die Mara Mattuschka von Nicaragua getroffen. Ihre verrückte und unkonventionelle Art lieben die Menschen aller Altersgruppen. Gaby artikuliert ihre Anliegen mit klaren Worten und die lässt sie auch in ihre Musik einfließen. Sie will nicht nur anklagen, sondern auch Alternativen aufzeigen. Sie ruft zur Solidarität auf und behandelt – wie viele andere Frauenaktivistinnen auch – die Emanzipation und den Feminismus auf einer globalen Ebene, wo man gemeinsam viel mehr erreichen kann.
Nach vier Wochen Aufenthalt verlassen wir die Pazifikküste und brechen auf an die Costa Caribe – nach Bluefields, der Hauptstadt der südlichen Atlantikregion. Wir verpassen den Schnellbus um 5 Uhr morgens und der Vormittagsbus hat es nicht eilig: 7 Stunden in einem prall gefüllten Autobus – bei 35 Grad Hitze – doch wir haben großes Glück und verfügen über einen Sitzplatz. In El Rama ist der Straßenweg zu Ende, weiter geht’s am Wasserweg, dem Rio Escondido entlang. Wir erleben einen faszinierenden Kulturbruch. Obwohl wir im Vorfeld wissen, dass uns an der Karibikküste ein Schmelztiegel der Kulturen erwartet, sind wir vom Ausmaß überrascht. Bluefields ist vorwiegend von Menschen mit schwarzer Hautfarbe bevölkert, Kreol ist die Hauptsprache und Reggae-Musik dröhnt in den Gassen. Wir fühlen uns wie in Klein Jamaica, da das Kreol stark an Patois erinnert.
In Managua haben wir bereits die Costeña Poetin Jolanda Rossman Tejada interviewt. Sie hat etwas sehr außergewöhnliches zu Wege gebracht. In ihrer Dissertationspublikation in Sozialanthropologie forschte sie nach Dichterinnen aus der Atlantikküste, kein einziger Name war bekannt und sie wurde fündig und brachte 28 Poetinnen ins Rampenlicht. Zwei von ihnen interviewen wir in Bluefields. Miss Isabel Estrada – eine Garifuna Poetin und die Kreol Dichterin Miss Erna Narcisso. Hier wird Poesie zur vermittelnden Kunstform für (frauen)politische Anliegen, Forderungen und Notwendigkeiten. 27 Interviewpartnerinnen schenken uns ihre Sichtweise auf ihren aktuellen Kampf für Frauenrechte und lassen uns teilhaben an ihren Träumen, Visionen und Utopien. Das 7-teilige Radioprojekt »Soy la mujer de mi vida« ist on-demand unter: http://cba.media – Suchbegriff »spacefemfem« an- und nachhörbar. Der Dokumentarfilm von Oona Valarie Schager und Ufuk Serbest wird im Januar 2011 präsentiert.
Helga Schager, ist Künstlerin & freie Radiomacherin. Gründungsmitglied von SPACEfemFM– Frauenradio auf Radio FRO 105.0 MHz. Sie initiiert, konzipiert, kuratiert, führt Kunst- und Audioprojekte durch – regional/ international. https://helgaschager.servus.at/
Oona Valarie Schager und Ufuk Serbest bilden gemeinsam das Künstlerkollektiv Peligro. Sie haben ein besonderes Interesse, gesellschaftliche Spannungsfelder künstlerisch darzustellen. Themen wie Individualismus/ Kollektivismus, Jugendkulturen, Alternativbewegungen, kulturelle Öffentlichkeit und Systemkritik bearbeiten sie mit Mitteln der bildenden Kunst und der neuen Medien. www.peligro.at