Es ist September 2015. Ich arbeite als Pressesprecherin für das Brucknerhaus Linz und wir sind alle im Stress wegen der Visualisierten Klangwolke – einem riesigen 60 minütigen Open-Air-Spektakel an der Donaulände. Zwei Stunden später ist der Rauch verzogen, sind die Sektflaschen ausgetrunken und ich stöckle durch eine Halle mit 500 Feldbetten. Ums Eck von Lachsbrötchen und dem VIP-Empfang des Brucknerhauses ist die Luft stickig, sind die Menschen ruhig, die Helfer*innen erschöpft. Ich befinde mich in der Tabakfabrik Linz. Sonst blühender Kreativstandort, jetzt Auffangbecken für hunderte Geflohene. Gerade aus Syrien angekommen. Ich trage einen Bleistiftrock, roten Lippenstift, die Haare streng, das Parfum teuer. Unterm Arm: Decken mit Sponsoren-Logos. Giveaways für die Gäste der VIP-Tribüne – sie sollten nicht frieren, während der Performance.
In der ehemaligen Produktionshalle für Zigaretten wird auf einen Schlag klar, wer die VIPs sind – sein müssten: Jene, die hier auf Feldbetten liegen, ein Quartier für eine Nacht gefunden haben. Die ihre Heimat Syrien gerade hinter sich lassen mussten, weil dort Terror, Krieg, Tod und Elend herrschen. Die auf Hilfe angewiesen sind. In Not Gekommene – das sind very important people! Ebenso die haupt- und ehrenamtlichen Helfer*innen und die Spender*innen.
In jener Nacht zeigte sich die Ungleichheit der Welt für einen kurzen Moment innerhalb eines einzigen Quadratkilometers in einem der reichsten Länder der Erde. Lebensrealitäten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch untrennbar miteinander verbunden sind. Eine Gleichzeitigkeit, die uns so entsetzt, dass wir sie gerne verhüllen, missachten und verdrängen, wenn sie nicht gerade an unsere Haustür klopft. In jener Nacht war sie inmitten der Gesellschaft angekommen – mit Sekt-Gläsern auf der einen Seite der Donaulände und Feldbetten auf der anderen.
Irgendwann betrifft uns die ignorierte Gleichzeitigkeit selbst. Deshalb sollten wir nicht die Augen vor dem Offensichtlichen verschließen. Das war 2015 im Syrien-Krieg so. Das ist 2022 im Ukraine-Krieg passiert. Das wird weiter sein – solange wir die groteske Gleichzeitigkeit passieren lassen.