130

130% ehrlich meint es Martin Heller. Norbert Trawöger fragt, was sich hinter dieser Zahl versteckt und was sie wohl bedeutet?

Mathematik war nie mein Fach. Als ich vor 23 Jahren in die gymnasiale Oberstufe eintrat, schlug sich mein Mathematik-Professor, angesichts meines Familiennamens, auf seine, aufgrund völligen Kopfhaarverlusts erst im Nacken endende, Stirn und zog seinen Schnauzer derart nach unten, dass seine Barthaare auf den Katheder zu tropfen begannen. Vier meiner familiennamensgleichen Vorfahren hatten sich bereits untilgbar in sein mathematisches, wenn auch wenig pädagogisches Gedächtnis eingebrannt und ihn zu dieser spontanen und prophetischen Geste hingerissen. Seine Handbewegung bekam Recht, nichtsdestotrotz maturierte ich vier Jahre später. Dieser Tage erkannte ich zu meiner völligen Überraschung, dass dies nicht aller Zahlen Abend für mich gewesen war. Ein kleiner Satz aus Martin Hellers Mund wirkte wie ein mathematisches Erweckungserlebnis auf mich. 130% ehrlich, meint er es, sagte Heller bei der 2/3 Programmbuchvorstellung. Was er ehrlich meint, weiß ich nicht mehr, aber die „130“ ist wie ein orangeblinkender Pylon auf meiner Denkstraße stehen geblieben. 130 – der Inbegriff des Tempolimits auf unseren Autobahnen. Was, Äpfel oder Birnen, würde mein Mathematikprofessor zynisch nachfragen. – Natürlich Kilometer pro Stunde!

130 Dollar kostet mittlerweile auch das Barrel Rohöl. Halbiert man 130, kommt man auf 65. Ja genau, das Budget des Kulturhauptstadtjahrs, in Euromillionen. Das 2/3 Programmbuch gibt 90% des Programms bekannt, d. h. hochgerechnet müssten im 3/3 Programmbuch 135% des Programms stehen, also leicht mehr als Hellers Wahrheitsgrenze. Vom „Skelett“ (griech.: skeletos = ausgetrockneter Körper, Mumie) des 1/3 Programmbuchs her betrachtet eine ungeheure Evolution …

Erich Watzl dankt – ebenso bei der Programmbuchvorstellung – dem Intendanten für sein mitunter provokatives Wachküssen der heimischen Kulturszene. Mein persönliches Erweckungserlebnis scheint also auch eine breitere, kollektivere Dimension zu haben. Der Intendant wird somit immer mehr zum „Intendankten“. Was dieser mit einem eingefrorenen Permanentgrinsen goutiert, das eine pluralmajestätische Qualität von, wir haben es eh immer gesagt, hat. Jetzt kommen endlich auch die Letzten, Vorletzten und Vorvorletzten drauf, in welcher Dimension wir arbeiten, welche Horizonte wir erblicken.

Vieles ist in Bewegung, kann man ohne Übertreibung sagen und braucht es gar nicht einmal zu behaupten!

Lassen sie mich zu meinem Ausgangspunkt zurückkehren – die 130. (Gleichzeitig frage ich mich, ob Martin Heller in der Schweiz 120% ehrlich ist da das Geschwindigkeitslimit auf Schweizer Autobahnen nur 120 km/h ist.) Was soll denn das heißen, es 130% ehrlich zu meinen. Heißt es, er ist um ein Drittel ehrlicher, als der Rest der Menschen, die einfach ehrlich sind. In welcher Lage steckt Heller, dass er seine Ehrlichkeit erst bei 130% erreicht? Heißt dies etwa auch, dass er bei 100% noch nicht ganz ehrlich ist? Das Spiel könnte man vermutlich endlos weitertreiben und dabei doch nur vom Hundertsten ins Tausendste kommen.

Die Frage ist, kann man heute nicht nur mehr ehrlich sein, ganz einfach ehrlich, ohne Quantifizierung. Ich unterstelle hiermit Martin Heller nicht, dass er es nicht ehrlich meine. Ehrlichkeit im Reden bedeutet, die Wahrheit zu sagen. Wahrheit hat selbstredend mit Wahrnehmung zu tun. Und „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“, schrieb Martin Walser. Ich klopfe nicht am Wahrheitsgehalt – so weit kommt es nicht, oder soll es gar nicht kommen – nur an der vorangestellten Zahl, an den Prozentpunkten und frage, ob dieser Quotenzusatz mittlerweile Teil unserer (Sprach-)Kultur geworden ist. Nichts geht mehr ohne Quote, Zahlenangabe, Quantifizierung …

Was versteckt sich hinter den Zahlen und was wollen sie uns bedeuten? Um was geht es wirklich? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht!

Norbert Trawöger ist spielender, lehrender und schreibender Musiker. http://www.traweeg.at

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