Melkt die EU!

rät Doris Rögner, aber stellt euch nicht hinter sie!

Hauptstadt. Ein Begriff und eine Einrichtung mit langer Tradition. Nicht gerade ein Reizwort, um auf der Stelle eine kontroversielle Diskussion auszulösen. Im Sinne der Regierenden sicher eine nützliche Einrichtung, von den Regierten im allgemeinen ebenfalls als solche wahrgenommen und akzeptiert, bietet eine Hauptstadt darüber hinaus Möglichkeiten der Repräsentation und der Identifikation. Dies gelingt nicht allen Hauptstädten gleich gut.

Manche kämpfen mit mangelndem Profil oder stehen im Schatten einer anderen Stadt. Im ersten Fall haben SchülerInnen Schwierigkeiten, sich ihre Namen zu merken, die entsprechenden Fragen beim Geographietest bleiben unbeantwortet. Im zweiten Fall werden die Fragen falsch beantwortet: Die Hauptstadt der Türkei … Istanbul, USA … NewYork, Australien … Sydney. Null Punkte! Manche Hauptstädte werden auch von den BewohnerInnen des Umlandes angefeindet, oft weil sie einen allzu großen Teil der Ressourcen eines Landes oder einer Region schlucken, zum Beispiel Berlin als Hauptstadt der DDR. Wien erfreute sich als sogenannter Wasserkopf in der ersten österreichischen Republik ebenfalls nicht allzu großer Beliebtheit.

Inzwischen hat sich vieles geändert: eine österreichische Identität hat sich entwickelt, und Wien, aber auch die Landeshauptstädte (vielleicht mit Ausnahme von St. Pölten und Eisenstadt) sind Teil dieser Identität. Nun ist es aber so, dass eine österreichische Identität spätestens seit dem EU-Beitritt nicht mehr so gefragt ist. An ihre Stelle treten soll das Gefühl, BürgerIn der Europäischen Union zu sein. Die EU hat ja, wie wir alle wissen, auch eine Hauptstadt. Ich könnte jedoch in meinem großen Bekanntenkreis keine 10 Personen aufzählen, die schon einmal dort gewesen sind. Sicher, Brüssel soll schön sein, aber spontan fällt einem dazu doch nur eine pinkelnde Brunnenfigur ein. Wer eine Städtereise macht, besucht immer noch London, Paris, Rom oder Berlin. Wenn aber Brüssel nun als neue identitätsbildende Hauptstadt nicht in Frage kommt, muss man sich als EU etwas anderes überlegen, und hat es auch bereits getan. Womit wir endlich beim Thema wären, nämlich bei der Kulturhauptstadt. Die EU, so werden sich die Verantwortlichen überlegt haben, ist ja ein ziemlich großes Gebilde. Wo immer man eine Hauptstadt installiert, der weitaus größte Teil der BürgerInnen wird sie nie zu Gesicht bekommen. Da schicken wir doch besser den Berg zum Propheten. Flexibilität und Mobilität als wichtige Eigenschaften des modernen Arbeitnehmers – die Kulturhauptstadt zeigt Ihnen, wie es geht. Gegenüber einer alten, vertrockneten Nur-Hauptstadt wirkt die neue, dynamische Kulturhauptstadt geradezu spielerisch. Undurchsichtige Entscheidungskriterien sorgen schon im Vorfeld für Spannung: „Wer kommt zunächst an die Reihe?“ … „Und wenn Ihr diesmal nicht dabei wart, nicht traurig sein, es gibt ja beim nächsten Mal wieder eine Chance!“

Natürlich muss sich die Kulturhauptstadt anders als die Nur-Hauptstadt regelmäßig einige Fragen gefallen lassen, z.B. „Warum gerade ich?“ oder „Warum nicht die andere?“ oder gar „Was ist der Sinn des Ganzen?“, „Gibt es überhaupt einen Sinn?“. Auch in dieser Hinsicht ist die Kulturhauptstadt geradezu menschlich. (Oder haben Sie sich solche Fragen noch nie gestellt?). 2009 trifft es also Linz. Und Linz fragt sich: „Warum gerade ich? Bin ich besonders schön, besonders interessant oder vielleicht gerade das Gegenteil?“ Nein, Linz, hier liegst du falsch. Im großen Pool der europäischen Städte bist du ganz bestimmt Durchschnitt (und wirst es wohl auch nach deinem Auftritt 2009 bleiben). Ein Aspekt, der mir durchaus sympathisch erscheint, bei dieser Auswahl. Einmal keine Begabtenförderung, auch keine beschämenden Almosen für jene mit besonderem Förderbedarf, sondern die Unterstützung der Mittelmäßigkeit. „Dann ist es vielleicht doch Schicksal, um nicht zu sagen Vorsehung?“.

Ist die EU vielleicht sogar Gott? Zumindest gebärdet sie sich wie der alttestamentarische Gott, indem sie auf verabscheuenswürdigste Art an ihren Außengrenzen regelmäßig Menschen im Meer versenkt. Doch das ist eine Frage des Glaubens und interessiert uns daher an dieser Stelle nicht. Halten wir uns lieber an die derzeit unumstößlichen Fakten: 1. Österreich ist Teil der EU. 2. Linz wird Kulturhauptstadt 2009. Gegen beides lassen sich gute Gründe finden. Beides kann man aber auch zumindest teilweise zu seinen Gunsten nutzen. Versucht die EU zu melken, aber stellt euch nicht hinter sie, damit ihr keinen Tritt bekommt. Und wenn die Milch fließt, dann macht daraus bitte keinen Käse!

Doris Rögner, sozialisiert durch katholisches Elternhaus und Kommunistische Jugend, schreibt aus Niederneukirchen.

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