Netzwerk Memoria

Rudolf Habringer und Walter Kohl, zwei oberösterreichische Literaten, starteten mit einer Förderung aus dem KUPF-Innovationstopf 2000 ein sehr ambitioniertes Projekt. Die Erinnerungen des 20. Jahrhunderts sollen in einem Archiv festgehalten werden. Diese Gedächtnisbibliothek soll in weiterer Folge KünstlerInnen, HistorikerInnen aber auch vielen Anderen zur weiteren Bearbeitung des gesammelten Materials zur Verfügung stehen.

 

Kupf: Wie seid ihr auf die Idee gekommen, die Schaffung eines umfangreichen Erinnerungsarchivs in Angriff zu nehmen?

Habringer: Der äußere Anlass war tatsächlich die Ausschreibung zum Innovationstopf. Beide haben wir ja schon mit historischem Material, oder sagen wir besser mit Erinnerungsmaterial, literarisch gearbeitet. Die Frage, was als historisch anerkannt wird bzw. wieweit subjektive Erinnerungen als historische Quelle gelten, ist ja für sich schon ein spannendes und sehr kontrovers diskutiertes Thema. Hier hat uns vor allem die Arbeit von Walter Kempowski/BRD interessiert. Er hat Material über den Zweiten Weltkrieg gesammelt. Tagebücher, aufgeschriebene Lebenserinnerungen, Photos, Briefe usw. Diese Unmenge an Material hat er dann zu einem Werk montiert. Seine Struktur war der Tag. Er hat also aus den verschiedenen Quellen parallel zitiert. Zu einem Tag hatte er etwa 50 Quellen und hat sie, vom Hitler-Leibarzt bis zu KZ’lern, nebeneinander gestellt. Ingesamt hat er so etwa 250 Biografien verarbeitet. Das ist ein interessantes literarisches, aber auch historisches Verfahren. Natürlich nicht unumstritten.

Euer Projekt ist ja auf Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte angelegt. Jetzt, nach einem guten Jahr Sammlungstätigkeit, wieweit seid ihr bisher gekommen?

Kohl: Ursprünglich wollten wir die Gedächnisbibliothek in schriftlicher Form machen. Bisher haben uns auch etwa 100 Menschen ihre persönlichen Aufzeichnungen zugesandt. Im Zuge der Arbeit haben sich aber auch viele Leute gemeldet, die ebenfalls ihre Erinnerungen und Erlebnisse in unser Archiv einbringen wollen, aber nie etwas verschriftlichten. Eine der nächsten Schritte wird daher sein, dass wir diese Leute besuchen und mit ihnen Videoaufzeichnungen machen.

Habringer: Das ist natürlich eine sehr aufwendige Angelegenheit, da man keine einstündigen Interviews führen kann. Wir werden uns mit den Leuten zusammensetzen und die Fragestellung sehr offen halten. Etwa: Erzählen Sie uns ihr Leben.

Wie wählt ihr die Leute aus, die ihr auf diese Weise befragen werdet? Nach Themen, Zeitabschnitten, Regionen?

Habringer: Darüber haben wir sehr lange nachgedacht. Da hat sich unser Netzwerk an etwa 40 KurotorInnen aus den unterschiedlichen Fachbereichen sehr bewährt. Prinzipiell wollen wir, wie gesagt, sehr offen agieren. Allerdings zeigt sich schon jetzt, dass sich auch bei offenen Fragestellungen häufig die selben Dinge herauskristallisieren. Das sind ganz klar die Bedingungen des Zweiten Weltkriegs, der Weltkrieg selbst und dessen Folgen. Darüber hinaus haben wir natürlich auch eigene Interessen. Etwa die Erinnerungen von MigrantInnen.

Kohl: Hier suchen wir schon sehr aktiv und beschränken uns nicht auf das, was durch unsere Aufrufe in Medien hereinkommt. Da bekommen wir sehr viele Kriegsschilderungen. Um das zu erweitern, bemühen wir uns ganz gezielt um andere Gruppen. Ein sehr heikles Thema, wo es auch sehr viel Rücklauf gab, ist die Migrationsbewegung aus Südböhmen. Hier könnte man mit dem eingelangten Material sofort ein Projekt starten. Das bringt mich auf eine Sache, die mich selbst schon einige Jahre beschäftigt. Gerade wenn es um den Nationalsozialismus geht, war es lange Zeit tabu, gewisse Dinge zu beleuchten. Etwa die Wohltaten der nationalsozialistischen Fürsorge für die „Volksgenossen“. Oder etwa, allerdings nur in der ersten Zeit, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch hygienische Maßnahmen in Aufenthaltsräumen von Betrieben. Kurz: was durch die Metapher des Autobahnbaus immer wieder an Stammtischen auftauchte. All dies wurde lange Zeit ausgeblendet. Es ist aber meines Erachtens sehr wichtig, um den Nationalsozialismus und die bereite Täterschaft zu erklären. Weil es ja auch viele Profiteure des Systems gab. Vielleicht ist der enorme Rücklauf auf eure Aufrufe Ausdruck eines massiven Nachholbedarfs aus dieser Richtung. Weil Leute das Gefühl haben, dass Ihre Geschichte verschwiegen wurde.

Kohl: Das glaube ich auch. Aber unser Scheu kommt eher daher, dass hier der Arbeitsaufwand, denn wir in dieses Projekt investieren können, eine sehr viel höherer sein müsste. Und das zu finanzieren, mit den nötigen Übersetzungen, ist nochmals ein hoher Aufwand. Natürlich ist auch das Thema durch die diversen Vertriebenenverbände so einschlägig besetzt, dass es schon sehr viel Kraft kostet, nicht in diesen Geruch zu geraten.

Habringer: Es geht natürlich auch darum, subjektive Lebenserfahrungen anzuerkennen. Hier ist sicherlich noch sehr viel Tabuisierung im Spiel. Als Autor interessiert mich das natürlich. Nur wissen wir derzeit noch nicht recht, wie wir das bewältigen.

Bei all dem Material, das ihr bisher gesammelt hat, gibt es da eigentlich noch Bedarf an Einsendungen?

Habringer: Auf jeden Fall. Bisher haben wir über die Rundschau und das Radio die sogenannten „einfachen“ Bevölkerungsschichten angesprochen. Wünschenswert wäre, noch mehr an die bildungsbürgerlichen Schichten zu kommen. Ich vermute, dass beispielsweise auch unter den pensionierten Schulräten einiges Material liegt. Dafür müssen wir allerdings noch die richtigen Verbreitungsorgane finden.

Kohl: Ein zentrales Problem ist natürlich die weitere Finanzierung dieses Projektes. Wir versuchen derzeit gerade auch eine EU-Finanzierung zu bekommen, aber allem Anschein nach wird sich das noch sehr zäh gestalten. Aber so geht es wohl vielen Projekten.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Andi Wahl

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