Verhandeln statt Zwingen

Das Setzen von Grenzen ist ein herrschaftlicher Akt. Es baut auf Machtstrukturen auf. Meist sind diese langfristig zementiert und werden auch kurzfristig akzeptiert. Eine privilegierte Person oder Gruppe kann darin einer oder allen anderen vorschreiben: Bis hierhin und nicht weiter. Die Möglichkeit, Grenzen zu setzen, basiert also auf struktureller Ungleichheit, die sich in einer konkreten Situation und/oder an einem spezifischen Ort manifestiert. Häufig geht es um Nationengrenzen; um die angebliche Notwendigkeit, diese zu ‚sichern’ oder zu ‚schützen’; um die Verhinderung von internationaler Kriminalität wie Drogen- oder Menschenhandel; sehr häufig um das Aussperren von Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Armut oder fehlenden Perspektiven. Aber nicht nur auf der ‚großen Bühne’ werden Grenzen (durch)gesetzt. Auch das Private ist von Herrschaftsakten durchzogen und von Machtstrukturen geprägt. Das gilt für die Be- genauso wie für die Erziehung. 

Sichtbar wird das herrschaftliche Setzen von Grenzen oft als autoritäre Handlung. Als solche ist sie mit der unmittelbaren Androhung von Zwang verknüpft. „Wenn du jetzt diese Linie überschreitest, dann…” Aber: So nicht, liebe Grenzsetzung! Ist ja auch gar nicht notwendig! Als politischer Akt muss die Grenzziehung nicht autoritär erfolgen, wenn durch gesellschaftliche Vereinbarungen, die Soziolog*innen nennen das auch „Institutionen”, dafür gesorgt wird, dass bestehende Machtstrukturen vorübergehend nivelliert werden und somit künstlich Gleichheit in einer ungleichen Gesellschaft erzeugt wird. Das geschieht in allen demokratischen Gremien – vom Parlament bis zur Vereinsversammlung. 

Auch in vielen Kulturinitiativen wird ein solches Zusammenarbeiten erprobt. Dass die Strukturen jedoch nicht automatisch zu antiautoritären Praktiken führen, habe ich erst kürzlich wieder einmal erfahren müssen. Ein*e Aktivist*in wollte – ihre Machtposition betonend – einer Gruppe von anderen Anwesenden, die zu später Stunde noch im Freien beisammen saßen, aus dem Gelände schmeißen: „Ich bin hier der Chef und ihr geht jetzt heim.” Von der Art und Vehemenz der Ansage gleichermaßen überrascht wie überfordert, wurde von der Gruppe ein zumindest respektvoller Tonfall eingemahnt: „Geht das auch freundlicher?” Die Situation, per se schon nicht frei von patriarchalem Gehabe, eskalierte bis zur Androhung körperlicher Gewalt. 

Unabhängig davon, wie berechtigt die grundlegende Intention der Grenzsetzung gewesen sein mag, die Form war autoritär. Da sich in der geschilderten Situation vor dem intendierten Rausschmiss niemand unangemessen oder übergriffig verhielt, wäre ein gemeinsames, empathisches Verhandeln mit Augenmaß und auf Augenhöhe durchaus eine mögliche Variante gewesen. Man hätte sich zusammensetzen und eine Lösung finden können, die, soziokratisch gedacht, zumindest für keine*n Beteiligte*n inakzeptabel ist. Mit dem Ergebnis – Verhaltensrichtlinien zur Vermeidung von Störungen festlegen, die Versammlung an einem anderen Ort verlegen, gemeinsam eine Deadline verhandeln – hätten alle zufrieden sein können. 

Herrschaftliche Akte wie Grenzsetzungen brauchen eine Institutionalisierung von Fürsorge und Empathie statt Autorität und Konfrontation. Vor allem in unserer Geisteshaltung muss sich anstatt eines Dominanz- ein Partner*innenschaftsprinzip verfestigen (um Begriffe der Systemwissenschaftlerin Riane Eisler zu verwenden). Dabei geht es darum, andere Situationsbeteiligte stets als gleichwertige Verhandlungspartei mit grundsätzlich legitimen Interessen zu sehen. Und ihnen damit ein Recht auf eine respektvolle Auseinandersetzung im gewaltfreien Rahmen zuzugestehen. Denn auch ein solches verfestigtes Mindset kann eine Form der Institutionalisierung sein, die Grenzsetzungen aus der autoritären Schleife befreit und demokratisches Verhandeln ermöglicht statt bestimmende Zwänge zementiert.

Comic von Stephan Gasser.

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