Geschmacksfragen als Klassenfragen

blog – Netzkolumne von Leonhard Dobusch

«Der ORF-Radiosender Ö1 bedient mit seinem Programm vor allem Zielgruppen, die auch ohne Ö1 gut informiert wären.» So hat mir gegenüber ein ORF-Vertreter begründet, warum Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sich nie nur auf besonders anspruchsvolle «Qualitätsinhalte» beschränken dürfen. Besonders deutlich wird das Dilemma beim Erwerb von Sportrechten: Mit einkommensunabhängig eingehobenen Rundfunkbeiträgen werden die Millioneneinkommen von SpitzensportlerInnen aufgefettet. Gleichzeitig sind es viele der wenig verdienenden GebührenzahlerInnen, die in diesem System draufzahlen, besonders an Sportinhalten interessiert und würden in einem alternativen Pay-TV-Regime bereit sein, einen noch viel höheren Anteil ihres Einkommens für Fußball(millionäre) und Co zu bezahlen.

Aber auch jenseits des Sports sind es – gar nicht so häufige – Volksmusiksendungen, die in der Tat unzähligen und immer gleichen Fernsehkrimis und Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen, die für Kritik an öffentlich-rechtlichem Rundfunk und Gebührenverschwendung herhalten müssen. Gerade im digitalen Zeitalter mit seinem Überfluss an Unterhaltungsinhalten sei es deshalb sinnvoll, öffentlich-rechtliche Angebote auf die Produktion von anspruchsvollen Qualitätsinhalten zu beschränken. Für den Rest werde der Markt schon sorgen.

So eine Argumentation verkennt nicht nur, dass Geschmacksfragen immer auch Klassenfragen sind. Dass öffentlichrechtliche Angebote auch Massengeschmack bedienen und nicht nur «Anspruchsvolles» liefern, entspricht voll und ganz ihrem Grundversorgungsauftrag. Eine Einschränkung auf nicht-marktfähige Qualitätsinhalte wäre aber besonders im digitalen Plattformzeitalter fatal. Denn gerade kreative und ermächtigende Potentiale digitaler Technologien manifestieren sich als nutzergenerierte Inhalte in Form von viralen Memes, verwackelten Handy-Videos und trashigen Remixes.

Für öffentlich-rechtliche Anbieter folgt aus dieser Erkenntnis die Notwendigkeit einer stärkeren Öffnung. Gerade weil eine zentrale öffentlich-rechtliche Aufgabe immer schon die Herstellung von Öffentlichkeit jenseits von Profit- und Verwertungslogik war, darf sie sich auch im digitalen Zeitalter nicht auf vermeintliche Hochkultur beschränken. Im Gegenteil, es braucht öffentlich-rechtliche Räume – Public Open Spaces – für neue digitale Massenkultur, die sich von kommerziellen Plattformen durch Werbefreiheit, Algorithmentransparenz und Datenschutz unterscheiden. Wie so etwas auf europäischer Ebene aussehen könnte, dazu finden sich erste Ideen unter → epos.weizenbaum.net.

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