Ungarn wird umgebaut

Kulturpolitik aus einem der meistdiskutierten Länder betrachtet Andreas Kurz.

Wer zum ersten Mal mit der Bahn von Wien nach Budapest fährt, wird sich fragen, warum man die Stadt am Keleti Pályarudvar erreicht, am Ostbahnhof, wo man doch eigentlich von Westen kommt. Dass der Nyugati Pályarudvar, der Westbahnhof, im Nordosten der Stadt liegt und keine Anbindung Richtung Westen hat, ist ebenso verwunderlich wie der Umstand, dass der westlichste Bahnhof Budapests, Kelenföld, eine heruntergekommene Durchgangsstation ist.

Als ich im Juni 2011 zum Vorstellungsgespräch hierher fuhr, sprang ich an eben dieser Station Kelenföld auf – Kelet und Kelen klingt halt sehr ähnlich – und stand, nachdem ich von drei Pendlerinnen auf ungarisch beruhigt worden war, eine viertel Stunde am Gangfenster, während der Zug eine weite Schleife um die Stadt fuhr. Dann stieg ich endlich am Keleti aus, versuchte ich mithilfe meines Stadtführers zu orientieren und stellte fest, dass er, obwohl erst vor kurzem aktualisiert, heillos veraltet war. Straßen und Plätze trugen neue Namen, auch Metro-Stationen hießen anders. Wenn ich heute – es ist der 10. Februar 2012 – zum ersten Mal in die Stadt käme, ich würde Ähnliches erleben, diesmal mit Theaternamen und Lokalen, wie dem weithin bekannten Gödör, einem alternativen Musikclub, dessen Räumlichkeit den Betreiberinnen vor kurzem entzogen wurde. Mitt e Januar war der entsprechende Entschluss der Stadtverwaltung bekannt geworden, am 1. Februar exisiterte das Lokal schon nicht mehr. Nun findet man an der Tür den Aufkleber Nagy Magyarország. Die Stadt ist, wie übrigens das gesamte Land, in radikalem Umbau begriffen.

Menschen und ihre Sprache
Als Gastlektor an der hiesigen Universität bin ich ständig mit dem Thema Fremdsprachenlernen konfrontiert, und es ist erstaunlich, wie sehr sich mit einer neuen Sprache auch ein neuer Kulturkreis eröffnet. Das hat für eine Person, die einer Sprachgemeinschaft von weniger als 15 Millionen Sprecherinnen weltweit angehört, eine andere Bedeutung, als für eine Person, die Deutsch spricht (170 Mio.) und zusätzlich Englisch gelernt hat. Wie sehr die Offenheit eines Landes mit der Mehrsprachigkeit seiner Bürgerinnen zusammenhängt, war mir noch nie so bewusst wie hier. Dass Ungarisch nur in Ungarn gesprochen wird und mit den anderen europäischen Sprachen in keiner Weise verwandt ist, dürft e ein nicht unwesentlicher Grund sein für die Sonderstellung dieses Landes in der Geschichte und heute: Die Mehrheit der Ungarinnen verfügt über keine oder sehr mangelhaft e Fremdsprachenkenntnis, und somit verschließt sich ihnen die gesamt nicht-ungarische Welt.

Die Anbindung nach West und Ost ist also nicht nur eine Frage des Bahnverkehrs. Und es will mir so scheinen, als käme dieses recht abgekapselte Dasein des Landes der derzeitigen ungarischen Regierung gar nicht ungelegen. In Zeiten der Krise, heißt es offiziell, müsse das Nationalgefühl gestärkt werden. Diese Schlussfolgerung wird auch in anderen Ländern gezogen, freilich, aber in der Wahl der Maßnahmen ist man in Ungarn denkbar wenig zimperlich: Gleichschaltung der Presse, Entmachtung von Verfassungsgerichtshof und Nationalbank, Abhängigmachen der Justiz. Der Versuch einer radikalen Re-Magyarisierung Ungarns ist allerorts spürbar, und dass derzeit auch der Vertrag von Trianon gezielt ins Gedächtnis zurückgerufen wird, passt gut ins Bild. Durch diesen Friedensvertrag verlor Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg große Landesteile und büßte erheblich an Bedeutung ein. Der Aufkleber Nagy Magyarorzság – Großungarn – verleiht der Forderung Ausdruck, die betreffenden Gebiete sollten dem Staatsgebiet wieder einverleibt werden. Und das Nationale Glaubensbekenntnis – die neue Verfassung, die am 01. 01. 2012 in Kraft trat – stellt nicht nur das Land auf eine neue Basis (als Grundlagen werden Gott , Stephanskrone(!), Christentum und Nationalstolz genannt), auch der Staatsname wurde geändert: Kurzerhand nahm man der Republik Ungarn die Republik weg, das Land heißt seitdem schlichtweg Ungarn. Ein Versuch eine Linie zu ziehen, die an die Zeit vor Trianon anknüpft ?

Die Mitverantwortung Österreichs und Deutschlands
Dass die Ungarinnen ihr Land zurückhaben wollten, kann ich sogar verstehen, wenn auch nur im übertragenen Sinn. Wer sich in Budapest umsieht, stößt an allen Ecken auf österreichische und deutsche Unternehmen, vor allem auf Banken, Versicherungen, Supermarktkett en usw., und als mir das ungeheure Ausmaß dieser Präsenz bewusst wurde, erinnerte ich mich an die Angstmacherei rechter österreichischer Parteien und ich dachte, wie sehr sich eigentlich die Länder des ehemaligen Ostblocks vor der Osterweiterung hätten fürchten müssen, nicht umgekehrt.

Über die ungarische Politik und Wirtschaftslage klagen nun bezeichnenderweise aber inbesondere jene Unternehmen, deren Mitverantwortung an der unglaublichen Verschuldung des Landes (Stichwort Schweizer-Franken-Kredite), an der hohen Arbeitslosigkeit (ganze Industriegebiete wurden von westlichen Unternehmen gekauft , nur um sie zu schließen) und dem damit verbundenen Zulauf, den radikale Parteien verzeichnen, nicht geleugnet werden kann.

Natürlich, dort und da regt sich Widerstand. Und es gibt Opposition, politische und zivile, aber ausgesprochen zögerliche. Dass die ungarische Bevölkerung der Politik Viktor Orbáns so unkritisch gegenüberzustehen scheint, liegt dabei nicht nur an den mundtot gemachten Medien. Es liegt auch an der Angst vor diesem Regime und vielleicht am generellen Selbstverständnis der Ungarinnen, die sich nicht so sehr als eigentlicher Souverän ihres Staates zu verstehen scheinen, sondern vielmehr als Objekt einer intransparenten Politik. Eine meiner ungarischen Bekannten erklärte mir die Sache so: „Ich gehe davon aus, dass du keine Meinung zur Schwerkraft hast. Du nimmst sie hin, weil sie ein Naturgesetz ist. Die Schwerkraft gut oder schlecht zu fi nden, wäre sinnlos. Einen solchen Umgang lernte ich als junger Mensch in Bezug auf Politik. Diktatur lehrt ein Volk keine Meinung zu haben. Jetzt kehren wir dorthin zurück.“

Hoffnung auf eine neue Generation
Mein Unterricht an der Universität ist stark geprägt von der Arbeit an meinem aktuellen Dokumentarfi lm freiräumen, der sich mit dem Bock Ma’s Festival und dem selbstbewussten gesellschaft spolitischen Engagement junger Menschen beschäft igt. Das steht der aktuellen politischen Tendenz in Ungarn klar entgegen. Ich bemerke aber, dass viele meiner Studentinnen große Neugier in bezug auf Themen wie Selbstbestimmung, Bürgergesellschaft und ziviler Ungehorsam haben, wenngleich die Skepsis gegenüber persönlichem Engagement und offener Meinungsäußerung bestehen bleibt.

Auch beim Budapester Community Radio Civil Rádió, wo ich eine deutschsprachige Sendung gestalte, ist man off en für derartiges, praktiziert es zum Teil sogar. Allerdings ringt der Sender, wie alle freien Medien Ungarns, ums Überleben, und da letzteres vom Wohlwollen der regierungstreuen Medienaufsichtsbehörde abhängt, ist man mit kritischer Berichterstattung vorsichtig geworden.

Wollte man es positiv betrachten, könnte man sagen: Es gibt nicht nur jenes Ungarn, das sich in alarmierender Weise in Richtung Diktatur bewegt, es gibt auch ein anderes Ungarn, das sich über facebook organisiert, zehntausende Menschen gegen das neue Mediengesetz auf die Straße bringt und sich mit vorsichtigem Interesse neuen Ideen öff net. Realistisch betrachtet hat Viktor Orbán die Idee eines nationalistischen Ungarn aber auf Jahrzehnte hinaus in die Grundstrukturen des Staates einbetoniert. Und solange seine Koalition über eine satte Zweidrittelmehrheit verfügt, ist der Nationalisierung des Landes kaum etwas entgegenzusetzen.

 

 
 

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