Infectious Basterds

Viren sind evolutionäre Alleskönner. Was sie mit Kunst und Kultur zu tun haben und welche positiven viralen Potentiale die Freie Szene enthält, veranschaulicht Kulturvirologin Susanne Ristow.

Als Parasiten lebendiger Zellen weisen Viren eine hohe Reproduktionsrate auf. Die dabei stattfindende rasante Vervielfältigung genetischen Materials führt zu Kopierfehlern und häufigen Mutationen. Seit mit der Genomforschung zu Beginn unseres Jahrtausends klargestellt wurde, dass auch das menschliche Genom zu einem Großteil aus Virenresten besteht, sprechen manche Forscher*innen von einer ‹Virolution›. Entwicklungsgeschichten lesen sich im Lichte dieser Erkenntnis anders.

Protected Mode vs. Virale Potentiale
Die kulturelle Evolution ist mindestens ebenso stark von Störungen, Grenzüberschreitungen und transformativen Schüben gekennzeichnet, wie von systematischer Kontinuität, Traditionsbildung und Tendenzen zur Monokultur. Das weltumspannende Betriebssystem des Lebens auf unserem Planeten funktioniert derzeit im ‹Protected Mode›. In der Industriegesellschaft ist es schon aus Kostengründen sehr schwierig, vorgefertigte Formen wieder aufzugeben und die Umprogrammierung der automatisierten Produktionsapparate zu veranlassen. Auch für die Kulturindustrie ist eine Störung der eingeübten Abläufe und Konventionen ein finanzielles Risiko, das nur selten eingegangen wird; und staatlich geförderte und in vorauseilendem Gehorsam kulturpolitisch korrekt agierende Akteur*innen reproduzieren mit erstaunlicher Effizienz schon Vorhandenes. Im internationalen Lockdown-Szenario der Corona-Pandemie wird zuletzt vielen ihr digitaler und ikonologischer Analphabetismus, vor dem der Medientheoretiker Friedrich Kittler schon 1993 in seinem Text Draculas Vermächtnis warnte, stillschweigend zum beklemmenden geistigen Gefängnis.
Systemrelevant sind Kunst und kulturelle Bildung nach Ansicht vieler Mitmenschen kaum, schon gar nicht die Freie Szene. Dabei könnten wir gerade von den ‹Freien› viel über positive virale Potentiale lernen.

Die Aufgabe der Kunst
Der US-amerikanische Autor William S. Burroughs beklagte 1982 die Stockung des Entwicklungsprozesses der kulturellen Evolution: Aus Furcht vor Veränderung komme es zum «Triumph von Routine und Automatisierung über Kreativität». Eine Umfunktionierung des vorhandenen Instrumentariums sei im ‹Protected Mode› kaum möglich, denn die brisante Frage zum Überleben von freier Kunst und freien Ideen in der Digitalära sei auch vor Einführung avancierterer Modelle künstlicher Intelligenz schlicht folgende gewesen: Wie verändert man Maschinen, die Maschinen herstellen? Brion Gysin, Erfinder der ‹CutUp›-Methode, bemerkte dazu, auch Menschen müssten immerzu «ins nächste Stadium gestoßen werden». Genau darin, den entscheidenden Impuls zu geben, bestehe die Funktion von Kunst: «Künstler versuchen, Mutationen auszudrücken oder zu beschleunigen: Das ist ihre Aufgabe, ihr Job».

Mikroben der Veränderung
Alle, die in Zukunft Wachstum und Entwicklung mit den üblichen Methoden und einem beherzten «weiter so» generieren, machen ihre Rechnung ohne die vielfältigen viralen Potentiale frei zirkulierender Agenten der Ansteckung, die Kunst und Philosophie schon lange als mögliche Alternative beschreiben. Beginnend mit der Kulturtechnik der Collage und der Beschreibung DADAs als «ursprüngliche Mikrobe, die mit der Luft in alle Zwischenräume eindringt, die noch nicht von Worten und Konventionen besetzt sind» (Tristan Tzara), entwickelt das Virus als Denkfigur des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Schlüsselfunktion als «Synonym für Veränderung» (Susan Sontag). Die erste umfassende Virustheorie legte 1972 Burroughs mit seiner «Electronic Revolution» vor. Gilles Deleuze und Félix Guattari unterschieden in ihren «Tausend Plateaus» zwischen molarer (systemischer) und molekularer Viralität. Zahlreiche weitere ‹virale› Konzepte folgten.

Prinzip Virus
Am Beispiel der allgegenwärtigen Viren als Zusammenhänge herstellende Grenzöffner finden sich – von der Moderne bis in unsere Digitalära – Hybridformen, in denen sich ein prototypischer dritter Weg zwischen Natur und Kunst, Biologie und Technologie, Vitalismus und Mechanismus als ‹Prinzip Virus› abzeichnet. ‹Infectious Basterds› sind wir alle: ‹Patient Zero› waren nicht Gürteltier, Fledermaus oder Marderhund, sondern der sprachgelehrte Affe, der Mensch selbst und seine Sprache, wie schon Laurie Anderson im Rekurs auf Burroughs feststellte: «Language is a virus from outer space».

Lesetipp: Susanne Ristow: Kulturvirologie. Das Prinzip Virus von Moderne bis Digitalära. De Gruyter 2020.

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