Wenn ich das Wort Kultur höre…

»Auf der Straße wird man bald nur mehr Künstler sehen, und man wird alle Mühe der Welt haben, da einen Menschen zu entdecken.« Arthur Cravan

 

Nedjma B. über Leben, Wohnen und Kulturarbeit in Paris Das im 18. Arrondissement von Paris gelegene Viertel Goutte d’Or ist ein Schlachtfeld! Hier, aber auch in den benachbarten Vierteln, tobt ein erbitterter Krieg. Ein Krieg der Auslöschung, den keiner beim Namen nennt. In der Tat ist die Goutte d’Or eines der letzten ärmeren Viertel, das sich innerhalb von Paris befindet. Seit mehr als 20 Jahren führen hier die Behörden (Staat, Präfektur und Stadtverwaltung) einen Kampf um das Territorium. Die Herausforderung ist eine doppelte: es geht darum, die letzten verbliebenen, gefährlichen Klassen, die noch die Hauptstadt bevölkern, zu entfernen, und den Raum für Immobilienspekulationen zurückzugewinnen. Ein derartiges Vorgehen ist keinesfalls außergewöhnlich, sondern spielt sich zeitgleich so auch in anderen europäischen Hauptstädten ab. In der generellen Umstrukturierung machen auch Aufrührerinnen ihre Arbeit: Lille mit seinen Bettlerinnen, Barcelona mit seinen okupas (Hausbesetzerinnen), in den Gassen von Genua. In all diesen Metropolen experimentiert der Krieg gegen die Armen mit direkten und indirekten Mitteln der Polizei. So folgte etwa auf die Verdrängung der »degradierten« Immobilien in Goutte d’Or die Eröffnung des 104, eines neuen Zentrums für zeitgenössische Kunst. Und: von der Terrasse neuer In-Cafés kann man jetzt dabei zusehen, wie Sans-papiers1 aufgegriffen werden.

Der Algerienkrieg ist nicht vorbei Pariser Polizei, CRS2, Sicherheitstruppen der Pariser Verkehrsbetriebe – die Dichte an Marineblau ist hier unzweifelhaft größer als auf der anderen Seite des Boulevards, dem schicken Teil des 18. Arrondissements. Auf dieser Seite des Boulevards de la Chapelle sind die Ordnungskräfte allgegenwärtig: am Quai, an den Ecken der Metro, auf den Trottoirs; auf Patrouille zu dritt, per Bus, per Auto, mit Blaulicht und Sirene. Die Musik von Barbès ist nicht mehr der raï3, sondern das unaufhörliche Aufheulen der zweitonigen Sirenen. Tag für Tag ist die Polizei im Einsatz, um den Verkäuferinnen von Rims (algerische Zigaretten), Mais und Subutex4 zuzusetzen. Während des Ramadan nimmt das Viertel wirklich Züge eines besetzten Gebietes an, und der an der Place de la Charbonnière permanent postierte Kastenwagen erinnert an die dunkelsten Stunden des Algerienkrieges, als die Widerstandskämpferinnen des FLN 5, nicht weit von der Kreuzung in den Kellern der rue de la Goutte d’Or gefoltert wurden.

Razzien Man muss festhalten, dass die Goutte d’Or mit ca. 30% unter der Armutsgrenze lebenden Bevölkerung (im Vergleich zu 18% anderswo in Paris) und 65 unterschiedlichen Nationalitäten immer noch ein Einwanderungsviertel ist6: Maghrebinerinnen im Norden, Afrikanerinnen im Süden. Mit seinen orientalischen Märkten, Halal-Metzgereien, Läden für afrikanische Haarzöpfe und seinen Märkten Barbès und Dejean, kommt die ganze nördliche Banlieue hier noch her, um ihre Einkäufe zu machen. Die Ecke ist daher ein bevorzugter Ort für die Durchführung von Razzien gegen Sans papiers. Das Ziel des Innenministeriums ist klar: Es heißt Quoten einhalten, damit die 25.000 Ausweisungen bis zum Jahresende 2009 geschafft werden. Zurzeit gibt es jeden Tag in jeder Haltestation im und um das Viertel Ausweiskontrollen: Auf der Straße, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in den Cafés, den Gängen der Metro. Und vor allem früh am Morgen, wenn die Sans-Papiers zur Arbeit gehen, auf Baustellen und als Reinigungskräfte. Noch vor einigen Monaten gingen diese Kontrollen für jederfrau offensichtlich vor sich. Das Ansuchen eines »Staatsanwaltes« definierte ein Gebiet, innerhalb dessen Grenzen die Polizistinnen die Möglichkeit erhielten, zu kontrollieren wer immer gerade das Pech hatte, sich genau dort aufzuhalten. Allerdings hatte diese Methode den Nachteil, extrem sichtbar zu sein, was gelegentlich wütende Reaktionen von Bewohnerinnen hervorrief. Die Ausweiskontrollen liefen zu häufig aus dem Ruder, die Menschen des Viertels bezogen Position. Vor zwei Jahr hat die Situation gar zu einem Aufruhr geführt. Das Setting ist daher jetzt leiser. Im Bus oder in der Metro können solche Razzien als Ticketkontrollen getarnt werden. Das Ziel der Polizei ist es, sich unter das Volk zu mischen. Man geht zu zweit oder zu dritt vor und die Polizistinnen können jeglicher Herkunft sein. Folglich ist es keine Seltenheit, dass beobachtet werden kann, wie die Polizei in Zivil oder als Rasta verkleidet einen Sans-Papier diskret zu einem harmlos aussehenden Polizeitransporter hinbegleitet. Aber: wenn diese Kontrollen jetzt unauffälliger vonstatten gehen, dann hängt das auch mit etwas anderem zusammen: Wo nämlich gerade ein Mann unter Handschellen abgeführt und in sein Herkunftsland zurückgeschickt wird, kann man von einem Spektakel reden, das tendenziell das Ambiente eines zukünftigen Modeviertels zu stören drohte…

Mixité sociale7 Das Kalkül ist simpel: In dieser Ecke liegt der Preis für einen Quadratmeter noch geringfügig unter dem Pariser Durchschnitt, was aus dem Viertel einen ungeheuren Spielplatz für die Immobilienspekulation macht. Die Investorinnen arbeiten Hand in Hand mit den Behörden an dem neuen Eldorado: es geht darum Platz zu schaffen, für eine neue Bevölkerung, die sich in dem Viertel ansiedelt. Eine Bevölkerung, die es bringt, die zahlt. Führungskräfte, kinderlose Familien und Leute, die am Puls der Zeit sind. Das nennt die Stadtverwaltung »mixité sociale«. Unter dem Vorwand der Durchmischung der Bevölkerung also, haben die Behörden kontinuierlich jene Wohngegend liquidiert, in der gemeinhin das Volk zu Hause war. Langsam, Haus für Haus, Wohnung für Wohnung, wurden die besetzten Häuser geleert, die Gebäude zerstört, abgerissen oder »rehabilitiert«. Der ganze Vorgang hat einige Zeit gebraucht. Seit den großen Zerstörungen in den 1980’ern bis zur Welle an Ausweisungen 2005 sind über 20 Jahre verstrichen. Aber die Rechnung ist aufgegangen: in den 1990er Jahren gab es noch mehr als 30 »besetzte« Gebäude im Viertel Goutte d’Or, ihre Zahl ist bis 2005 auf unter zehn gefallen. Der Kampf gegen unzumutbare Wohnsituationen hätte heilsam sein können für jemanden, der dem Charme der Bruchbuden und kleiner Kinder, die von Bleivergiftung geplagt sind, nicht viel abgewinnt. Aus den überbelegten Immobilien jedoch haben die Stadt und die Sozialwohnungsliquidiererinnen Gebäude mit zwei bis drei Mal weniger Wohnungen errichtet – mehrheitlich für die Mittelschicht reserviert. Unter dem Deckmantel der mixité sociale hat die Stadt falsche, aber sehr teure Sozialbauten (sogenannte PLS), Gebäude, in denen nur 30% der Wohnungen erhöhte Mieten enthalten, verkäufliche Sozialwohnungen (was man Aufstieg zu Eigentum nennt) und Sozialwohnungen für Künstlerinnen eingerichtet. Diese Politik trägt allmählich Früchte: 2005 stiegen die Wohnungspreise in Goutte d’Or um 22,5% und um 18% im 18. Arrondissement. Die ehemaligen Bewohnerinnen werden ihrerseits an den Pforten von Paris angesiedelt, zumindest die Glücklicheren unter ihnen. Die große Mehrheit, jene die zu arm sind, bzw. nicht den Kriterien für die Zuerkennung einer Sozialwohnung durch die Stadt Paris entsprechen, bedeutet es die Relegation – den Abstieg – in die mittlere oder große Banlieue von Paris. Aktuell sind die einzigen Armen, die noch eine Wohnmöglichkeit in dem Viertel finden, Künstlerinnen und Studentinnen, welche den neuen Anteil der »provisorisch blanken« – und damit akzeptablen – Population bilden.

Zivilisierte Räume Parallel zu den »Vertreibungen« wurde ein ganzes environnement konsensualen Formats angelegt, um die neue Population an Stellen zu installieren, wo sie sich vorher nicht recht wohlfühlte: durch die Verbreiterung der Gehsteige, die Vervielfachung von Videoüberwachungskameras und öffentlicher Beleuchtung, die Entwicklung von Formen »sanften Verkehrs«, Fahrradwege und vélibs (Mietfahrrädern). Die Mannschaft von Bertrand Delanoé (Bürgermeister von Paris, Anm.d.Ü.) nennt das »der neue zivilisierte Raum«. Sein Ziel ist es, ein Maximum an Verkehr mit einem Maximum an Kontrolle zusammenfallen zu lassen, damit man gar nicht mehr auf die Idee kommt, die Straße zu blockieren, um herumzuhängen oder zu diskutieren. Mit der Abschaffung öffentlicher Sitzbänke, der Umgestaltung des urbanen Mobiliars um Obdachlose abzuschieben, sind alle Anzeichen gegeben, die ehemaligen Bewohnerinnen des Viertels daran zu erinnern, dass es unakzeptabel sei, dort zu wohnen, wo andere nur vorbeigehen. Diejenigen, die der übelriechenden Luft ihres überbelegten Appartements entkommen wollten, haben quasi Pech gehabt. Auf den Simsen des Großkaufhauses Tati wurden sogar Spitzen angebracht, um die alten Chibanis am Hinsetzen zu hindern. Soft-Zynismus, Ethno-Esprit und Multi-Kulti Die einzige Möglichkeit, sich auf der Straße aufzuhalten ist also, sich auf die Terrasse eines der neuen In-Cafés zu hocken und Elektro- und Worldmusik zu lauschen. Denn hier spielt sich die Enteignung in der Musik ab und der Empfang der neuen Bevölkerung ist eher festivischer Natur: Das »Essen des Viertels«, die »Lange Nacht«, das »Fest der Goutte d’Or«, alles gut genug, um das Ambiente in einen neuen »Dorf-Esprit« zu tauchen. Die Stadtverwaltung versteht sich im Übrigen sehr gut darauf, das Bild vom »anderen«, »multikulturellen« oder »gemischten« Viertel« als Karte auszuspielen. Sie knausert keineswegs bei den Mitteln und erhöht die Förderungen für Ethno-Konzertsäle (Nouveau Lavoir Moderne Parisien, rue Léon), Fotoausstellungen über Migrantinnen »Pariser vom Ende der Welt« (Echomusée, rue cavé) und anderen interkulturellen Begegnungen. Ihre Kunst besteht in ihrem Geschick, einen Diskurs der Toleranz zu führen – einen sehr tragenden, der in den neuen regierungskritischen Cafés, die mehr bio als nature sind, sehr en vogue ist.

Die Kultur – Trojanisches Pferd der immobiliären Neustrukturierung In der Goutte d’Or8, wie anderswo, ist das eigentliche Geheimrezept der Spekulation – das trojanische Pferd der immobiliären Neustrukturierung – die Kultur, ganz besonders die zeitgenössische Kunst. So hat sich binnen 15 Jahre die Anzahl neuer kultureller Einrichtungen im Viertel vervielfacht: Dazu gehört etwa die Verwandlung des Louxor Kinos in ein Kunst- und Experimental-Cinéma, die Eröffnung eines Musikzentrums für neue Musikformen, das Zentrum Fleury Goutte d’Or etc. Die Straße rue des Gardes mutierte zur »rue de la Mode«. Man kann heute in Geschäftsvitrinen »junger Designer« T-Shirts mit der Aufschrift »I love Barbès« erspähen, die zu einem Preis erstanden werden können, der einer Monatsmiete der genau darüber situierten Sozialwohnung entspricht. Am schlimmsten hat sich diese Offensive allerdings rund um die Metrostation Stalingrad ausgewirkt. Dort, am anderen Ende des Viertels, hat man das ehemalige Bestattungsunternehmen in ein immenses zeitgenössisches Kulturzentrum umgewandelt. Laut Plakette ist das 104 mit seinen 39 000 m2, seinen 200 darin residierenden Künstlerinnen und seinen 8 Millionen Euro Subvention »ein Kulturprojekt großen Zuschnitts«. Für das kommende Jahr werden knapp eine Million Besucherinnen prognostiziert. Mit einem kaum getarnten Zynismus steht für 2010 sogar eine Ausstellung über die Hausbesetzerinnen auf dem Programm.

Epilog Wenn eine Gerichtsvollzieherin vor der Pforte eines »besetzten« Gebäudes steht, weiß man, wie man zu reagieren hat: die Bevölkerung kommt zusammen, zieht eine Barrikade hoch und wirft einige Steine. Aber wenn den Menschen ein Zentrum für zeitgenössische Kunst oder ein »Goutte-d’Or-Hauptstadt-der-Welt-Kulturen-2009« auf den Kopf fällt, wissen sie nicht recht, wie sie es denn angehen sollen. Man riecht, dass da eine dumme Sache im Busch ist und dass man eine Aktion, eine Parade zu erfinden hätte. Bloß welche? Und gegen wen? Die Vorstellung, dass das Kapital nicht mehr unter Kanonenschüssen vorwärtsschreitet, sondern in Form einer tanzenden und raschelnden Miliz – flankiert von kostümierten Künstlerinnen und mit Ecstasy zugedröhnten In-Menschen – daherkommt, ist uns noch nicht vertraut. Nichtsdestotrotz organisieren sich hie und da erste Versuche von Widerstand. Mit der Krise und der Abschwächung des Immobilienmarktes wachen langsam wieder einige Hausbesetzerinnen auf. Sans Papiers okkupieren erneut ein großes Gebäude in der rue Baudelique, Gruppen von Schlechtsituierten versuchen, anständige Wohnungen zu erhalten und auf der Mauer steht eine Telefonnummer, um die Bewohnerinnen des Viertels im Fall einer Razzia warnen zu können. All das ist natürlich minimal angesichts der Offensivmacht, aber – hier wie anderswo – gelingt es dem Kultur-Geflieder nicht ganz, unter seinem Wortwust die Realität des im Gange befindlichen Krieges zum Verschwinden zu bringen.

Nedjma B. ist Lehrerin, studierte Philosophin und Babysitterin; lebt derzeit in einer Pariser Sozialwohnung.

Übersetzung: Andreas Schmoller

1 Im Französischen gebräuchlicher Ausdruck für in Frankreich lebende MigrantInnen, die keine Aufenthaltspapiere haben. Anm. d. Ü. 2 Compagnies Républicaines de Sécurité: Spezialeinsatztruppen der französischen Polizei. Anm. d. Ü. 3 Eine aus Algerien stammendes Musikgenre, das Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt wurde. Anm. d. Ü. 4Subutex ist ein Methadon-Derivat, ein Ersatzstoff für Heroin. 5 Front de libération nationale: Die 1954 in Algerien gegründete Front der Nationalen Befreiung zur Erlangung der Unabhängigkeit von Frankreich, Anm. d. Ü. 6 Vgl. Marie-Hélène Bacque, En attendant la gentrification. Discours et politiques à la goutte d’or (1982-2000) 7 Ausdruck im Französischen für das relativ neue Konzept, das darauf abzielt, verschiedene soziale Schichten in einer Wohngegend zusammenzuführen, d.h. das Nebeneinanderleben von ökonomisch besser und schlechter gestellten Gruppen zu erreichen. Anm.d.Ü. 8 Während der »Langen Nacht« haben alle Museen von Paris geöffnet und die Goutte d’Or zählt dann zu den meist überrannten Ecken der Hauptstadt! (Adäquater wäre die Übersetzung mit »Schlafloser Nacht«, das Konzept entspricht jedoch der in Österreich bekannten »Langen Nacht der Museen«, Anm.d.Ü.)

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