Eine großartige Frau

Ein Nachruf auf Ulrike Stieger von Andi Wahl.

Am 5. Juni 2011 ist Ulrike Stieger an den Folgen eines Autounfalls gestorben. Ich bin immer noch nicht fertig damit, das zu begreifen. Dabei geht es mir wie vielen von Ulrikes Freundinnen. Es gibt Momente, in denen ich mir die Tatsache bewusst vorsagen muss, um sie in meinen Kopf zu bekommen. Ulrike ist tot. In diesen schmerzlichen Momenten, die ich jetzt nicht ausführe werde, weil sie in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben, in diesen schmerzlichen Momenten also, steigen Erinnerungen an Ulrike auf. Erlebnisse, Momente, Details. An Ulrikes Daumen etwa. Ulrike hatte zwei ganz aussergewöhnliche Daumen. Vor allem aber an den politischen Menschen. Ulrike war von 2000 bis 2003 im Vorstand der KUPF. 3 Jahre davon gemeinsam mit mir. In dieser Zeit machte sie mir das Leben oft schwer. Ulrike hatte nämlich eine unangenehme Eigenschaft: Sie nahm einen beim Wort. Glaubte einem das, was man sagte. Zumindest fürs Erste. Nun gibt es aber Momente, in denen man sich in Pose wirft, dick aufträgt oder gar eine Revolutionärin mimt. Ulrike hat einen immer wieder an die Sprüche erinnert, die man in solchen Momenten klopfte, hat die Menschen an ihren eigenen Ansprüchen gemessen. Und wenn man meilenweit von diesen entfernt war, gab sie einem das Gefühl, sie wirklich enttäuscht zu haben. Zu gerne hätte sie daran geglaubt, dass man der ist, der man vorgab zu sein. Da half kein Herumdrücken oder Augenzwinkern. Ulrike verlangte Ehrlichkeit. Ohne Hintertüren und doppelten Boden. Einmal wagte ich in einer leidenschaftlichen Aufwallung zu verlangen, dass man, wenn man erkannt hat, dass etwas falsch ist, dieses auch bekämpft. Auch und vor allem, wenn man keine Aussicht auf Erfolg hat. „Bekämpfen – nicht besiegen“ brachte ich diese Haltung auf eine Kurzformel. Von diesem Moment an war das der Maßstab, mit dem ich von Ulrike gemessen wurde. In den seltensten Fällen habe ich entsprochen, und die Enttäuschung darüber war ihr anzusehen. Aber es gab auch ganz berührende, tiefe Momente in unserer eher losen Freundschaft. Einmal hat sie mich mitgenommen in ihre Heimatgemeinde und mir den Steinbruch gezeigt, in dem vornehmlich türkische Gastarbeiter arbeiteten. Und sie hat mir die ärmlichen, geduckten Unterkünfte gezeigt, in denen sie wohnten. An diesem Nachmittag war zu spüren, wie sehr sie die Verhältnisse, die Menschen abverlangen, so zu leben, schmerzten. Ulrike hatte einen sehr unmittelbaren Bezug zu Politik. Das alles ging sie etwas an, auch als Mensch. Vor allem als Mensch. Mit ihr konnte man die ursprüngliche Bedeutung des leider so sehr in Verruf geratenen Wortes Mitleid erleben. Anteilnahme und tatsächliches Mit-leiden. Mitleid auch als Vorbedingung für das Mit-freuen. Sich auf die Menschen einlassen und mit ihnen sein. Das geht wahrscheinlich nur mit einem Menschen, der so frei von Zynismus ist. Ränkespiele, taktische Überlegungen, strategische Erwägungen und dergleichen, woraus Politik oftmals auch besteht, waren daher Ulrikes Sache nicht. Und sie hat mich verachtet, wenn ich so etwas nur überlegte. Selten habe ich diese Gleichzeitigkeit von Intellekt, Emotion und Redlichkeit erlebt, wie sie Ulrike verkörperte. Sie fehlt mir. Verdammt, sie fehlt mir. Und es treibt mir die Tränen in die Augen von Ulrike in der Vergangenheit schreiben zu müssen. Das wollte ich euch sagen, als meinen völlig unzulänglichen Beitrag zur Erinnerung an eine großartige Frau.

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