Die Idee der Kulturhauptstadt Europas

Dieses Buch hat Tanja Brandmayr für Sie gelesen.

 

Der Kulturhauptstadtidee wird „im Zuge der stürmisch-hektischen Vorbereitungsarbeiten kaum Aufmerksamkeit geschenkt“, heißt es in der Einleitung zum Buch – und Herausgeber Jürgen Mittag meint damit folgendes: Jedes Jahr und bei jeder Kulturhauptstadt ist angesichts des starken Interesses an der Programmausgestaltung eine begrenzte Auseinandersetzung mit Intentionen und Geschichte des Kulturhauptstadtkonzepts selbst festzustellen.

Was aber vermehrt Sinn machen würde, denn Kulturhauptstadt kommt selten voraussetzungslos daher. Während eine Funktionalität von Kultur zu Beginn noch neu war, scheint sie nun mit voller Wucht des gesellschaftlichen Kitts einer Identitätssuche daherzukommen, durchaus nicht entkoppelt von Strukturproblemen der europäischen Union: „Die viel beschworene Identität, sie zu verorten und zu kontextualisieren, ist einer der vornehmsten Zwecke der Kulturhauptstadtidee.„ Und das, um Europa gemäß seinem viel zitierten Motto „in Vielfalt zu einen“. Der Band hat sich zum Ziel gesetzt, einen multidisziplinären Zugang zu eröffnen, um Ursprung und Entwicklungslinien anhand von acht Einzeluntersuchungen systematisch zu erfassen, um 25 Jahre Kulturhauptstadt „jenseits der Standardversion der Geschichte der Kulturhauptstadt“ neu zu reflektieren.

Die Beiträge sind breit gestreut. Thematisiert wird Eventkultur, Stadtmarketing, politische und programmatische Ausgestaltung, Nachhaltigkeit, kulturellen Aneignung, Budgets und die deutliche Verlagerung von staatlicher Förderung hin zur Kreativwirtschaft und damit die Tendenz, Kultur zunehmend als „Faktor von Entwicklung und Wandel“ zu verstehen. Oder neuere programmatische Ansätze, Kommunikationsprozesse und Kooperationsprozesse zu fördern, die im Sinne einer Konstituierung von europäischer Identität durchaus auf einen Mechanismus zurückgreifen, der bereits nach dem zweiten Weltkrieg, quasi als Vorläuferprojekt vom Europarat, praktiziert wurde: Der der Bebilderung und gemeinsamen Visualisierung Europas, das nach dem zweiten Weltkrieg wieder ein Europa des Friedens und der Eintracht sein sollte.

So verschieden die Formen von damals zu heute auch waren – inszenierte bildungsbürgerliche Kunstausstellungen und Kulturwegeprogramme in den 50er Jahren und eine, sagen wir, kollektive Visualisierung eines „Kultur für alle“-Ansatzes heute – die Wurzeln einer europäischen Identität werden immer im Dienste eines kulturpolitischen Interesses neu konstituiert und neu visualisiert. Europa als Wiege der Aufklärung und Ort und Ergebnis einer humanitären Katastrophenerfahrung: Die im letzten Beitrag vorgestellte Frage nach europäischer Identität schließt dabei auf eine besonders ambivalente Weise den großen abendländischen Kreis der Kulturgeschichte.

Tanja Brandmayr ist Kulturschaffende in Linz.

Die Idee der Kulturhauptstadt Europas: Anfänge, Ausgestaltung und Auswirkungen europäischer Kulturpolitik, Jürgen Mittag (Hg.), Klartext Verlag, Essen 2008

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