Markus Griesser zu den Hintergründen der umstrittenen Bolkensteinrichtlinie.
Ultraliberalismus ist der neue Kommunismus, erklärte unlängst Jacques Chirac mit Blick auf die Bolkesteinrichtlinie. Die Utopie einer freien Assoziierung freier Individuen war damit wohl nicht gemeint.
Barrosos Kinder
Als Kommissionspräsident José Manuel Barroso vor kurzem in einer Rede vor dem Europäischen Parlament verlautbarte, dass eines seiner „drei Kinder“ (Beschäftigung, Umwelt und Soziales) erkrankt sei und er sich deshalb zukünftig verstärkt auf dieses – nämlich die Beschäftigung – zu konzentrieren plane, klang das in den Ohren vieler wie eine Drohung. Denn der Versicherung zum Trotz, dass er die anderen beiden „deshalb nicht weniger liebe“, lässt sich aus Statements wie diesem durchaus schlussfolgern, dass hier mal wieder „Beschäftigungspolitik“ auf Kosten von Sozial- und Umweltstandards praktiziert werden soll. Dabei ist es selbst in wirtschaftspolitischen Zusammenhängen keineswegs ausgemacht, dass „Barrosos Kinder“ zwangsläufig in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Aber in der neoliberalen Perspektive des Kommissionspräsidenten erfordert die Schaffung von Arbeitsplätzen nun einmal die Realisierung des „freien Marktes“ und mithin die Schleifung sämtlicher „Hindernisse“ (sozial- und arbeitsrechtliche Regulierungen, Umweltauflagen usw.), welche diesen bislang blockierten. Dann erst, so die zugrunde liegende Ideologie, kann sich das freie Unternehmertum voll entfalten und uns alle mit Arbeit und Wohlstand segnen.
Mit einem neoliberalen Heilsversprechen dieser Art trat vor einiger Zeit auch der Kommissionsentwurf für eine EU-Dienstleistungsrichtlinie auf: 600.000 neue Jobs wurden damals als Folge in Aussicht gestellt. Sehr bald schon wurden jedoch Stimmen laut, die Zweifel an der Umsetzbarkeit dieses Versprechens artikulierten.
Bolkesteins Hammer
Erreichen will die Richtlinie das genannte Ziel sozusagen mittels zweier „Deregulierungsinstrumente“: Zum einen nämlich durch den sukzessiven Abbau staatlicher Rechts- und Verwaltungsvorschriften, wodurch – ähnlich wie bei GATS – diverse öffentliche Beihilfen und Monopole für illegitim erklärt und die betroffenen Bereiche mithin liberalisiert werden könnten.
Zum anderen schließlich durch das so genannte „Herkunftslandprinzip“, welches besagt, dass Dienstleistungsunternehmen nur mehr den Rechtsvorschriften ihres Herkunftslands unterliegen. Das würde bedeuten, dass ein Unternehmen, das seinen Hauptsitz in einem Land mit niedrigen Lohn- und Sozialniveaus hat, diese zukünftig auch in allen anderen Mitgliedsstaaten der EU für sich geltend machen kann. Aber damit nicht genug: Selbst die Unternehmenskontrolle sowie jene der Einhaltung vorgeschriebener Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen soll zukünftig vom jeweiligen Entsendestaat geleistet werden, dem es dafür jedoch sowohl an Interesse als auch an den nötigen Mitteln fehlt.
Wie angedeutet wurde, könnte der kulturelle Sektor von diesen Maßnahmen in zweifacher Hinsicht betroffen sein: Einerseits nämlich durch die darüber erwirkte Liberalisierung und Privatisierung kultureller wie auch anderer öffentlicher Dienstleistungen. Und andererseits durch die Verschlechterung der Arbeits- und Sozialstandards in Bereichen, in denen heute bereits kulturelle Dienstleistungen nach privatwirtschaftlichen Prinzipien erbracht werden.
Soweit also der ursprüngliche Plan der Kommission. Doch seit wenigen Wochen scheint nun alles anders: Beim EU-Gipfel Ende März in Brüssel wurde der Richtlinienentwurf zurück gestellt. Vom Tisch ist die Direktive deshalb jedoch noch lange nicht. Ist das EU-Verfassungs-Referendum in Frankreich – wohl der eigentliche Grund für ihre Zurückstellung – erst überstanden, wird wohl auch die Dienstleistungsrichtlinie eine Neuauflage erfahren. In welcher Form die nunmehr geäußerte Kritik sich in zukünftigen Fassungen derselben niederschlagen wird, ist derzeit allerdings noch weitestgehend unklar. Klar hingegen ist schon jetzt, dass die Entwicklung progressiver Modelle ohne die Aufrechterhaltung des Drucks auf die Kommission nicht zu haben sein wird. Und dieser kann letztlich wohl einzig von den Betroffenen selbst ausgeübt werden.
Markus Griesser
Bei der sog. „Bolkesteinrichtlinie“ – benannt nach dem ehemaligen Binnenmarkt-Kommissar Frits Bolkestein – handelt es sich um eine EU-Rahmenrichtlinie für Dienstleistungen, die sich die Realisierung eines gemeinsamen europäischen Binnenmarkts für deren Erbringung zum Ziel gesetzt hat. Zwischenzeitlich wurde die Direktive jedoch zwecks Überarbeitung zurück gestellt. Mehr Infos zu den kulturpolitischen Implikationen finden sich unter: http://www.igkultur.at