30 Jahre Frauenhausbewegung

Die Dokumentation einer Fachtagung findet Klemens Pilsl empfehlenswert.

Der Begriff Gewalt gegen Frauen bezeichnet jede Handlung geschlechtsbezogener Gewalt, die der Frau körperlichen, sexuellen oder psychischen Schaden zufügt oder zufügen kann, einschließlich der Androhung derartiger Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung in der Öffentlichkeit oder im Privatleben .

Die urban legend überliefert uns, dass das erste Frauenhaus 1972 in London entstand, als sich eine Frau weigerte, ein Frauenzentrum zu verlassen, da zuhause ihr gewalttätiger Ehemann auf sie lauerte. 2002: 30 Jahre später gibt es einerseits 1500 europäische Frauenhäuser, andererseits stellt der Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser gemeinsam mit den Wiener Kolleginnen die Fachtagung „30 Jahre Frauenhausbewegung in Europa“ auf die Beine.

Das 2004 erschienene gleichnamige Buch dokumentiert nun diese Fachtagung und bietet die Vorträge zum Nachlesen – und durchaus einen beinahe-exotischen Mix der europäischen Frauenhausbewegung: eine Aktivistin aus der Türkei berichtet ebenso von dortigen Frauenhäusern wie eine Schwedin, eine Ungarin gesellt sich neben eine Schottin. Zuviel der Eindrücke auf jeden Fall, um sie hier alle unterzubringen – hervorgehoben seien daher vor allem zwei Aufsätze: Einen quasi-einleitenden Blick in die sozialwissenschaftlichen Belange des Themas „Gewalt gegen Frauen“ bietet Carol Hagemann-White. Die studierte Mathematikerin, Historikerin, Philosophin und Soziologin Hagemann-White ist ja an und für sich schon ein ziemliches Kaliber – sie knallte der deutschsprachigen Frauenbewegung der 70er-Jahre deren Biologismus vor den Latz und betonte den Sozialcharakter von Geschlechtlichkeit ? und damit auch den Weg von der Frauen- zur Geschlechterforschung (mit-)ebnete. Und sie war es, die beim ersten deutschen Frauenhaus in Westberlin die begleitende wissenschaftliche Forschung leitete.

Das alles wird zwar im Buch nicht erwähnt, prädestiniert sie aber absolut, den Stand der Dinge der europäischen Sozialforschungen zu „Gewalt gegen Frauen“ zu skizzieren: Ein „europäischer“ quantitativer Blick auf die Gewalt gegen Frauen ist schwer möglich, zu groß sind die methodischen Unterschiede der ForscherInnen der einzelnen Länder, zu unterschiedlich die von Nationalität, Religion und Ethnizität geprägten Auffassungen der betroffenen Frauen selbst, was nun Gewalt sei, und zu unsicher ist es, den Grad individueller Gewalttätigkeit quantitativ messen zu wollen. Anhand mehrerer nationaler europäischer Studien legt Hagemann-White klar die Forschungsprobleme dar, vergleicht die Methoden und thematisiert auch die Rolle der neuzeitlichen europäischen Kultur, die trotz ihrer selbstproklamierten Modernität immer wieder Gewalt gegen Frauen „produziert“.

Der zweite besonders hervorzuhebende Aufsatz stammt von der – ebenfalls nicht unbekannten – Rosa Logar, einem immer noch aktivem Urgestein der österreichischen Frauenhausbewegung. Sie bietet einen Überblick über die Geschichte der österreichischen Frauenhausbewegung seit 1977, die sie auch anhand der globalen und europäischen Entwicklung erzählt. Vom ersten Wiener Frauenhaus (1978) bis zu Gender Mainstreaming erzählt sie auch definitiv ein wertvolles Stück österreichischer Frauengeschichte. Und sie schneidet auch die heißen, die aktuellen Themen an: Wie kann man Frauen vor dem Hintergrund einer Migration, die als besonders gefährdet gelten, besser schützen, ohne die österreichische Xenophobie weiter anzustacheln? Wie umgehen mit dem in der Frauenbewegung lange tabuisierten Problem von Gewalt in lesbischen Beziehungen? Was ist noch autonom an einer Bewegung, in deren Vorständen Parteifunktionärinnen sitzen und die abhängig ist vom Geld eines (patriarchalen) Systems? Und – last but not least – ihr Bekenntnis zur absoluten Notwendigkeit der Täterarbeit, die sie auch selbst betreibt und in einem eigenen Buch thematisiert.

Alles in allem ist „30 Jahre Frauenhausbewegung in Europa“ für eine Tagungsdokumentation ungewöhnlich spannend zu lesen. Das vergleichsweise dünne Buch macht eineN zwar nicht zum Experten oder zur Expertin des Themas, aber es bringt einen kurzweiligen Einblick. Erschütternd – nämlich immer wieder erschütternd – die angeführten Zahlen über das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen auf unserer Welt. Und nicht nur die zeigen: Es geht uns alle an.

United Nations: Declaration on the Elimination of Violence against Women. New York 1993 (nach oben)

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