Makro & Mikro

Mit den Neuerscheinungen von Oliver Marchart und Gerald Raunig stehen nun endlich zwei fundierte Publikationen zum kulturpolitischen Diskurs zur Verfügung, deren genaues und gewissenhaftes Studium jedem/r KulturarbeiterIn ans Herz gelegt werden muß.

 

von Gerlinde Grünn

Die Aufkündigung wohlfahrtstaatlicher Orientierung, Deregulierung von Wirtschaft und Kultur sowie das Heraufdämmern eines neuen Autoritarismus beenden die bisherige Praxis der österreichischen Politkultur. Der Neoliberalismus versetzt der josephinischen Orientierung der Zweiten Republik den Todesstoß. Oliver Marchart macht sich an die Bewertung dieser Epoche und kann kaum Gutes finden. Die Eckpfeiler des Josephinismus Ð Aufklärung-von-oben, Neokorporatismus und Legitimationsmythen Ð verhinderten eine streitbare und konfliktfähige österreichische Politkultur. Die repräsentative Demokratie verkam angesichts der sozialpartnerschaftlichen Konsenszwänge zum katholisch-barocken Bühnengewitter, die Zivilgesellschaft drohte an der konfliktscheuen Konsensideologie zu ersticken und entwickelte kaum autonome Gegenöffentlichkeiten. Es gilt nun die Chancen, die sich an der Zäsurlinie des absterbenden Josephinismus ergeben, zu nutzen. Für Oliver Marchart ist die Repolitisierung im Sinne eines radikalen und pluralistischen Demokratieverständnisses unabdingbare Voraussetzung für die Neudefinition von Kulturpolitik bzw. Politkultur. Kultur ist mehr als Kultur/Kultur oder Kunst/Kultur, sie ist die Gesamtheit symbolischer Bedeutungsproduktion und -reproduktion eines Gemeinwesens. Kulturpolitik darf daher nicht „kulturell“, sondern muß demokratiepolitisch begründet werden. Ziel der Politisierung der Kulturpolitik ist die Politisierung der Politkultur und damit eine nachhaltige Politisierung und Demokratisierung der Zivilgesellschaft. Oliver Marchart will Kulturpolitik und Kulturschaffende an ihrer demokratiepolitischen Effizienz messen und befürwortet die alleinige Förderung von Projekten, die sich in den Dienst des Aufbaus einer handlungsfähigen und konfliktfähigen Zivilgesellschaft stellen. Die Schaffung einer pluralistischen und radikalen Gegenöffentlichkeit ist angesichts der Bedrohung zivilisatorischer Standards durch rechtskonservative, rassistische und faschistische Strömungen unabdingbare Voraussetzung, um den Kampf um die kulturelle Hegemonie erfolgreich führen zu können.

Die makropolitische Sichtweise Oliver Marcharts wird durch die mikropolitische Gerald Raunigs ergänzt. Gerald Raunig stellt sich die Frage nach der Positionierung der Kunst im öffentlichen Raum. Dichte kunsttheoretische Reflexionen und der Einsatz der mythologischen Figur Charons, dem Fährmann zwischen Hades und Oberwelt, führen den/die LeserIn durch den manchmal recht schwierigen Parcours einer Ästhetik der Grenzüberschreitung. Die 90er Jahre stehen im Zeichen der Repolitisierung der Kunst durch die Ausweitung des Kunstfeldes. Erst mit dem Eindringen der Kunst in andere Gesellschaftsbereiche Ð in das Soziale und Politische Ð wird jenes notwendige Spannungsfeld erzeugt, das mikropolitische Veränderungen möglich macht. Als gelungene Praxis der Grenzüberschreitung nennt Raunig die sozialen Interventionen der Gruppe WochenKlausur. Die Repositionierung der Kunst im alltäglichen Leben erfordert eine Neudefinition des Selbstbildes der KünstlerInnen. Nicht mehr Autonomie, Genie und Originalität, die klassischen und historisch gewachsenen Eigenschaften, zeichnen die KünstlerInnen aus, sondern sie werden zu charonischen HilfsarbeiterInnen im Dienste der Grenzüberschreitung. Erst in den durch Dilatation geschaffenen Räumen können Alternativen konzipiert und oppositionelle Praktiken entwickelt werden. Neben der Veränderung des Bild der KünstlerInnen nennt Gerald Raunig noch weitere sechs Bewegungen hin zu einer zeitgemäßen Ästhetik: Die Befreiung der Kunst von ihre Repräsentations- und Identitätsfunktion, die Auflösung des Publikums als rezeptive Figur, die Abkehr vom Werkfetischismus, die intentionale Veränderung und Erweiterung des Kunstfeldes, die Bezugnahme von Öffentlichkeit und Räumlichkeit sowie die Aufhebung der Autonomie durch Grenzüberschreitung.

Den von Oliver Marchart vehement eingeforderten Beitrag der Kunst zur Entwicklung einer streitbaren Zivilgesellschaft definiert Gerald Raunig folgerndermaßen: „Das Kunstfeld kann ein klein bißchen beitragen zur Entwicklung eines radikaldemokratischen Rahmens, in dem zivilgesellschaftliche Strukturen einen größeren Raum einnehmen; beitragen zur synthetisierenden Prozessierung von Utopien und mittelfristigen Lösungen, von strukturellen Reformen und niederschwelligen Symptombekämpfungen. Nicht mehr.“

Oliver Marchart, Das Ende des Josephinismus. Zur Politisierung der österreichischen Kulturpolitik. edition selene, Wien 1999 Gerald Raunig, Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung. Passagen-Verlag, Wien 1999

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