Irgendwo ist uns in den letzten Jahren der Diskurs abhanden gekommen. Ja / nein, richtig / falsch, auf meiner Seite / nicht auf meiner Seite … Politisch und medial wurden wir auf Tempo gepolt, auf Entscheidung und Urteil. «Wenn du nicht meiner Meinung bist, gehörst du zu den Anderen» – zu denen wir natürlich ganz klare Zuschreibungen und Adjektive im Ärmel haben. Und so kann es ganz schnell gehen und wir finden uns auf einer von zwei Seiten, obwohl wir vielleicht nichts anderes getan haben, als unseren eigenen inneren Kompass (unsere Werte, unser Menschenbild oder Gewissen, …) ernst zu nehmen.
Höchste Zeit wieder Farbe ins Schwarz/Weiß zu bringen! Aber wie?
Dazu müssten wir uns über Grundlegendes verständigen:
1. Jeder Mensch ist ein Individuum, unverwechselbar, einzigartig per se. Dazu hat jede*r von uns eine völlig andere Lebensgeschichte, Prägungen, Erziehung, Muster, …
2. Wenn wir uns darauf einigen können, werden wir vielleicht auch sehen, dass es zu jedem Thema eine Vielzahl von Zugängen, Anschauungen und Perspektiven gibt, die genauso passend oder unpassend sein können, wie die eigenen – denn: Wer / was ist der Maßstab?
3. Wenn es dann noch gelingt, unsere anders-denkenden Gegenüber nicht als Gegner*innen zu sehen, sondern als Mit-Menschen, ist ein weiterer wichtiger Schritt getan. Dann geht es nicht mehr um’s Recht-Haben und Gewinnen, sondern um’s weiter Lernen, um den Inhalt oder die Sache und um die Chance auf neue Erkenntnisse.
In der Logotherapie sprechen wir von einem ‹Sternenhimmel an Möglichkeiten›, die es in jeder Situation gibt. Auch wenn vielleicht gerade Wolken davor sind oder uns die Sonne blendet, ist dieser Sternenhimmel da. Viele Perspektiven gemeinsam eröffnen einen neuen, gemeinsamen Blick, der ein wenig ‹ganzer› ist als der, den eine*r alleine hat. Diesen Blick zu finden, erfordert aber die Auseinandersetzung, das Einlassen auf das jeweilige Gegenüber. Und das wiederum braucht Zeit, Achtsamkeit und liebevolles Anerkennen.