Isolde Vogel zieht ein Fazit aus der Debatte rund um die documenta fifteen und regt zur (Selbst-)Kritik im Umgang mit und Erkennen von Antisemitismus an.
Damals… wie heute?
Seit Jahrhunderten transportieren Bilder Judenhass. Gerade in Deutschland und Österreich wirkt das antisemitische Bildrepertoire des Nationalsozialismus nach 1945 fort, weder die Zerrbilder noch das antisemitische Denken sind mit Ende der NS-Herrschaft verschwunden.
Das offenbarte auch das diesjährige zeitgenössische Kunstfestival documenta (Kassel) in mehreren Ausstellungsstücken. Besonders offensichtlich war ein großes Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi, das nach Kritik verhüllt und schließlich entfernt wurde. Darauf dargestellt ist u. a. eine Figur, die „den Juden“ als blutrünstigen Kapitalist und zugleich Nazi zeigt. Der durch Zylinder und Anzug als Kapitalist gekennzeichnete Mann mit krummer Nase, blutunterlaufenen Augen, Vampirzähnen, Schläfenlocken, Kippa und SS-Runen lässt keinen Interpretationsspielraum: Die Abbildung ist eine Form des holocaustbezogenen Antisemitismus.
Tod, Zersetzung, Davidsterne
Betrachtet man das Banner als Ganzes, stellt es sich als dreiteiliges Gemälde (Triptychon) dar. Mittig ist mit neutralen Farben eine Szene abgebildet, die an das Jüngste Gericht erinnert. Seitlich zeigt es zwei Extremwelten, ein positives und ein negatives Bild. Rechts das paradiesische Bild: das naturverbundene und bodenständige ‚Volk‘ bei der biologischen Landwirtschaft, verschont von modernen Errungenschaften wie medizinischem oder technischem Fortschritt, organisch verbunden mit einer grünen, saftigen Landschaft voll glücklicher Tiere, Figuren, die mit bloßen Händen, barfüßig und Obst essend vor sich hin ackern oder einig protestieren. Die linke Seite zeigt ein rot brennendes Höllenszenario: Tod, Krieg und Zerstörung zwischen von Geld besessenen, raffgierigen, teuflischen und sklaventreibenden Figuren der Industrie der Großstadt. In dieser zersetzenden Darstellung befinden sich auch die antisemitisch konnotierten Figuren.
Die Abbildung bietet Parallelen zur völkischen Weltanschauung, die sich durch den anti-aufklärerische Glauben an eine ursprüngliche, natürliche Ordnung, Blut-und-Boden-Ideologie und völkischen Antisemitismus auszeichnet. Das eigene (‘arische’) ‚Naturvolk‘ wird vom ‘jüdischen Nomadenvolk’ abgegrenzt und das Kollektiv, ganz im Sinne der ‘Volksgemeinschaft’, über das Individuum gehoben. Zu diesem Weltbild gehört auch die Idealisierung der bäuerlichen, ‘natürlichen’ Lebensweise und körperlicher Arbeit, der gegenüber die Ablehnung der ‘entarteten’ urbanen Lebensweise und damit verbunden der angeblich ‘raffende’ und ‘künstliche’ Charakter von Jüdinnen*Juden steht. Bei aller berechtigter Kritik an kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen, die den Prinzipien der Konkurrenz und Profitlogik unterworfen sind: Das Banner von Taring Padi verkennt Widersprüchlichkeiten und Komplexität und unternimmt einen simplifizierenden Erklärungsversuch durch Teilung der Welt in Gut und Böse. Das Bild sucht konkrete Verantwortung und Schuld für alles Schlechte – und personifiziert dies auch ikonografisch antisemitisch, etwa durch Figuren, die mit Davidstern bestückt sind.
Zwischen Selbstverleugnung und Kulturrelativismus: antisemitische Kunst ohne Antisemit*innen?
Einerseits verläuft Antisemitismus immer gleich: Er erklärt alle Übel der Welt als Schuld von Jüdinnen*Juden, unterfüttert mit Klischees, Komplexitätsreduktion und modernefeindlichem, dualistischem Verschwörungsglauben. Andererseits zeigt sich Antisemitismus in stetig neu geformten Ausdrucksweisen, wird verbal wie auch bildlich in Anspielungen verpackt oder über Umwege kommuniziert, etwa in der Projektion antisemitischer Ressentiments auf den Staat Israel. Das macht ihn schwieriger zu erkennen – und einfacher zu ignorieren.
Antisemitismus wird aktuell (abseits rechtsextremer und islamistischer Kreise) meist selbstverleugnend geäußert, also ohne sich selbst und die eigenen Aussagen als antisemitisch zu begreifen. Auch offenkundig antisemitische Polemiken wollen nicht so gemeint gewesen sein. Als „Antisemitismus ohne Antisemiten“ bezeichnet das der Sozialwissenschaftler Bernd Marin. Das trifft auch auf die documenta zu: Selbst nachdem das Banner von Taring Padi entfernt und Darstellungen bedauert wurden, weist das Kollektiv weiter vehement von sich, dass sie oder ihre Bilder antisemitisch seien.
Tatsächlich war das antisemitische Banner kein Einzelfall auf der documenta – es hagelte weitere Vorfälle: Bilder, die implizit Verbrechen der deutschen Wehrmacht mit israelischer Politik gleichsetzen, Aufnahmen eines ehemaligen Mitglieds einer antisemitischen Terrororganisation, eine Karikatur eines israelischen Soldaten in einer Bildsprache, die aus dem nationalsozialistischen Stürmer stammen könnte.
(Kultur-)Politische Reaktionen
Die Reaktion der Verantwortlichen war nicht Distanzierung und Selbstkritik, auch wurde bis dato kein weiteres Werk von der Kunstschau entfernt. Stattdessen gab es Verteidigungsversuche mit Verweis auf vermeintliche „Missverständnisse“ und „Fehlinterpretation“¹ der antisemitischen Motive im deutschen Kontext in Statements der Kurator*innengruppe und des Kunstkollektivs Taring Padi. Doch Jüdinnen*Juden als Nazis und Schweine darzustellen ist unmissverständlich und in jedem Kontext antisemitisch. Antisemitismus ist als menschenfeindliche Ideologie wirkmächtig, egal ob als Judenhass intendiert oder nicht. Dabei wird zusehends fraglich, ob überhaupt davon ausgegangen werden kann, dass der Antisemitismus nicht intendiert sei. Auch in anderen Werken Taring Padis finden sich antisemitische Motive.
Auch Rechtfertigungsversuche in stetiger Thematisierung der Herkunft der Künstler*innen sind problematisch. Wenn Menschen aus ‚dem Globalen Süden‘ als vermeintlich homogene Gruppe kollektiv das Unvermögen unterstellt wird, Antisemitismus ablehnen zu können und ‚der Globale Süden‘ als Schutzschild deutscher Verantwortlicher vor sich hergetragen wird, wirkt dies kulturrelativistisch und rassistisch. Denn: Weder schützt Herkunft vor antisemitischem Denken noch sorgt sie dafür. In diesem Sinne ist niemand davor gefeit, aber auch niemand dazu verdammt, sich judenfeindlich zu äußern. Gleichzeitig ist jedem Menschen individuell zuzutrauen und zuzumuten, die diskriminierende, hasserfüllte und komplexitätsreduzierende Ideologie zu erkennen und abzulehnen – auch künstlerisch und kulturpolitisch.
Kritik und Selbstkritik
Antisemitismus ist Antisemitismus, egal von wem er geäußert wird oder wie er gemeint war. Antisemitische Aussagen, ob als „politische Kritik“ deklariert oder unter dem Deckmantel der „Meinungs-“ oder in diesem Fall „Kunstfreiheit“, bleiben antisemitische Aussagen. Das ist nach Jahrzehnten internationaler und interdisziplinärer Forschung eigentlich kein Streitthema mehr. Wie die Kognitionswissenschaftlerin und Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel feststellt, sind Antisemitismusleugnung und andere Abwehr- und Relativierungsstrategien integraler Bestandteil moderner antisemitischer Polemiken.
Diese Aufklärungsarbeit ist Teil der Aufgabe von Wissenschaft und Forschung. Wie man mit Antisemitismus, auch in den Werken der documenta, umgeht, ist eine politische Entscheidung. Dringend nötig wäre es, die Energie, mit der der Frage nachgegangen wird, ob etwas antisemitisch ist, in die Bekämpfung von Antisemitismus fließen zu lassen – jenseits kulturrelativistischer Erörterung von Kontext und Absicht, die für die Wirkung ohnehin keine Rolle spielen. Aus der Geschichte zu lernen ist eine Forderung, die auch in der Welt der Kunst und Kultur zu stellen ist und die ohne selbstkritisches Denken nicht erfüllt werden kann.
¹ Siehe die Statements der Kunstkollektive Archives des luttes des femmes en Algérie, Taring Padi und der künstlerischen Leitung ruangrupa, nachzulesen auf der Homepage der documenta fifteen documenta-fifteen.de.