Das digitale Antragsformular setzt eine Anrede voraus. Wenn ich keine der Möglichkeiten „Herr“ oder „Frau“ wähle, kommt eine Fehlermeldung. Ich rufe an, um mich zu erkundigen, wie ich als genderfreie Person einen Antrag einreichen kann, werde mit der Abteilungsleitung verbunden. Auf Nachfrage erwähne ich die Eckdaten des Projektes: 42 Kunstbeiträge in Laut-, Schrift-, Bild- und Gebärdensprache. Ich werde unterbrochen: Der Fördertopf sei für „Künstler und Künstlerinnen“, deren Arbeit sich an ein „breites Publikum“ richte – „Inklusionsprojekte“ würden nicht gefördert.
Wens sind die „Künstler und Künstlerinnen“, von denen hier die Rede ist, wens das „breite Publikum“? Können sie sich als genderfrei verstehen, als nicht-binär? Können sie auf horizontale Anwesenheit angewiesen sein? Sich fragmentarisch und vielstimmig begreifen? Brauchen sie einen festen Wohnort, einen Aufenthaltstitel, einen Studienabschluss? … Wens bleibt am Ende über: Wens ist eigentlich gemeint?
Gemeint sein. Was wäre, wenn… Ich rufe das Formular auf – als Künstlens für einen Förderantrag oder als Publikum für eine Platzkarte. Es gibt eine Vorlesefunktion. Das Formular ist in leichter Sprache mit Bildern. Ein Video in Gebärdensprache und eine Audiodeskription leiten durch die Fragen. Ich kann das Formular online, in Papierform, als Audiodatei, als Gebärdensprach-Video, telefonisch oder vor Ort (wahlweise mit kollektiv organisierter Unterstützung) einreichen. Ich kann wählen, über welche Sinne und Sprachen ich kommunizieren bzw. der Veranstaltung folgen will und in welchen ich unterstützend übersetzen kann: auditiv, visuell, fühlend… Gebärden-, Laut-, Schriftsprache, Braille… Igbo, Deutsch, Farsi, Englisch,… Für Veranstaltungen und Treffen gibt es Stühle, Sitzsäcke, Liegen, Raum zum freien Rollen, Gehen, Stehen und Verweilen, parfümfreie und geräuschreduzierte Bereiche und virtuelle Zugänge. Als Publikum kann ich nach Selbsteinschätzung spenden und werde dabei unterstützt, indem mir erklärt wird, wie sich die Kosten zusammensetzen und wie die Spenden verwendet werden. Nicht abgefragt würde in diesem Formular, wie ich mich in Bezug auf Gender verstehe oder nicht verstehe; was meine Staatsbürgensschaft, meine Adresse oder mein Schulabschluss sind.
Eliah Lüthi ist die Akademie-der-Unvernunft.org
> Zu horizontalen Anwesenheiten: Winter, Noa (2020): Aesthetics of Horizontal Access – An Ode to Lying Down in Art Spaces. wordgathering.com/vol14/issue4/disability-futures/winter
> Zum Projekt: akademie-der-unvernunft.org/buchprojekt
Zum Gendern:
Die ‚ens‘ Form (ens, aus mENSch) als allgemeine Form für alle Menschen ist hilfreich in Formulierungen, in denen Gender keine Rolle spielt – was meist der Fall ist (z.B.: Künstlens, Schriftstellens). Wenn es mir wichtig ist, auf genderspezifische Diskriminierung hinzuweisen, versuche ich dies, indem ich spezifisch die Diskriminierung benenne (statt die darüber hergestellten Kategorien ‚Frau‘, ‚Mann‘, ‚Divers‘, …). Genderspezifische (Künsterin/Künstler) und genderfreie (z. B. Künstlex) Personenbezeichnungen verwende ich nur dann, wenn die gegenderte Identität der Person eine Rolle spielt – das kann z. B. der Fall sein, wenn es Menschen politisch wichtig ist, als Frau, Mann, nicht-binär oder genderfrei bezeichnet zu werden.
Zum Weiterlesen:
Hornscheidt, Lann & Sammla, Ja’n (2020): Wie schreibe ich divers? Wie spreche ich gendergerecht? Ein Praxis-Handbuch zu Gender und Sprache