Kunstfehler im System

Selina Shirin Stritzel will Bildung für alle! Derzeit arbeitet sie als Projektkoordinatorin von Akademie geht in die Schule an der Akademie der bildenden Künste Wien. Darüber, dass Bildungszugang kein Zufall ist, spricht sie mit Laura Helene May.

Laura Helene May: Was sind deine persönlichen Erfahrungen mit der sogenannten Hochkultur? Wer ist mitgemeint?

Selina Shirin Stritzel: Meine Erfahrungen dazu sind primär aus dem Theaterbereich, wo es schon damit anfängt, wer sich Karten leisten und ins Theater gehen kann. Die Kategorie Klasse spielt also eine Rolle. Innerhalb der Institution Theater wird die sogenannte Hochkultur an exklusiven und hierarchischen Strukturen sichtbar. Die Machtpositionen besetzen primär ältere, weiße Männer, die dann entscheiden, welche Geschichten erzählt werden und damit beeinflussen, welche Personen sich mit den Bühnenrealitäten identifizieren können.

Ich habe mit 19 Jahren eine Regie-Hospitanz am Staatstheater in Stuttgart gemacht. Dort habe ich das erste Mal den Widerspruch erlebt, dass auf der Bühne sehr linke, fortschrittliche Themen besprochen wurden, die Produktion selbst jedoch super hierarchisch war. Auch was das Finanzielle angeht. Als Hospitantin wurde man nicht bezahlt, war aber diejenige Person, die als erste kam und als letzte ging. Für mich hat sich hier das erste Mal die Frage gestellt, ob ich Teil dieses Systems sein möchte.

Du hast 2012 Prosa (Projekt Schule für Alle) mitgegründet, eine Initiative, die geflüchteten Menschen einen Schulabschluss ermöglicht. Warum muss in einem wohlhabenden Land mit Schulpflicht ein gemeinnütziger Verein diese Aufgabe übernehmen?

Das Bildungssystem in Österreich ist an das AMS gekoppelt, also an den Arbeitsmarkt, und schulpflichtig ist man in Österreich nur bis zum 15. Lebensjahr. Die über 15-jährigen asylsuchenden Jugendlichen fallen aus dem Bildungssystem heraus. Weil sie nicht arbeiten dürfen und Asylwerber*innen keinen Anspruch auf AMS-Beihilfe haben, bekommen sie auch keinen Zugang zu weiterführenden Schulen. Das ist ein strukturelles – ich würde behaupten – gewolltes Ausschlussverfahren.

Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht. So haben wir uns das erklärt und schafften es, den Verein zu gründen und so aufbauen, dass Schulunterricht stattfinden kann. Weil österreichische Schulen verpflichtet sind, externe Prüfungen abzunehmen, haben wir einfach herumgefragt und uns angemeldet. Die Abschlussprüfungen finden in einer Wiener Schule statt und die Schüler*innen bekommen tatsächlich einen österreichischen Pflichtschulabschluss.

Dein Interesse an ‚Bildung für alle‘ setzt sich mit deiner Arbeit an der Akademie der Bildenden Künste fort. Was ist AgidS (Akademie geht in die Schule)?

Ich bin dort sozusagen wieder an der Schnittstelle von Politik, Bildung und Kultur. Das Projekt AgidS ist kein reines Vermittlungsprojekt von Kunstworkshops − es versucht die Akademie weniger weiß und akademisch zu machen. Wir gehen in Mittelschulen und informieren Jugendliche darüber, dass es die Möglichkeit gibt, Kunst zu studieren.

Auch wenn man in Österreich für gewöhnlich nur mit Matura studieren kann, reicht für das Diplomstudium in Bildender Kunst an der Akademie ein Pflichtschulabschluss; dies gilt auch für das weniger bekannte Studium der Szenografie (Bühnenbild). Das ist eine Information, die nur sehr Wenige haben. Das Tolle am Kunststudium hier ist, dass man keine Matura braucht, sondern sich mit einer künstlerischen Mappe bewirbt und dann eine Aufnahmeprüfung macht. So gesehen heißt das in der Theorie: Chancengleichheit für alle.

Das Projekt kann natürlich das österreichische Bildungssystem und die sozialen gesellschaftlichen Unterschiede nicht verändern, aber es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es geht darum die Informationen breit zu streuen und Jugendliche in ihrer Kreativität zu empowern.

Warum ist die Akademie trotzdem so ein exklusiver Ort?

Ein großer Begriff ist das kulturelle Kapital, also das Kunst- und Kulturverständnis als solches, was wir auch in unseren Workshops vermitteln wollen. Wie wachse ich auf? Gehe ich mit meiner Familie ins Museum oder Theater? Das hängt mit Klassenunterschieden zusammen und wird oftmals in Diskursen als kulturelles Kapital zusammengefasst. Es ist eben nicht nur das finanzielle Kapital, welches den Zugang zu Wissen bestimmt.

Arbeiter*innenkinder haben oft aufgrund der finanziellen Situation der Eltern keinen oder sehr erschwerten Zugang zu etwa außerschulischem Musikunterricht. Denn der kostet Geld. Wer mit 18 dann anfängt, kann fast nicht mehr aufholen. Zudem ist es in der Kunst allgemein so: Wenn meine Eltern mich nach dem Schulabschluss finanziell nicht unterstützen können, überlege ich mir dreimal, ob ich Kunst studiere. Denn die Möglichkeiten, auf dem Arbeitsmarkt selbständig zu überleben, sind gering und mit großem Aufwand verbunden.


Zum Gendern:

Ich will am liebsten eine Lösung wie im Spanischen, wo statt ‚amigas‘ oder ‚amigos‘ einfach ‚amigues‘ verwendet wird – ganz ohne Rede- oder Schreibfluss zu behindern. Gemeinsam mit Selina habe ich mich darauf geeinigt, dass wir im Deutschen das * bevorzugen, da es keine Binarität voraussetzt, ein natürliches Zeichen ist und bereits recht populär im Gebrauch zu sein scheint.


Selina Shirin Stritzel ist freischaffende Theatermacherin, politische Bildungsarbeiterin, transmediale Künstlerin und Projektkoordinatorin von Akademie geht in die Schule an der Akademie der bildenden Künste Wien, wo sie im Master Critical Studies studiert. Sie ist Mitbegründerin des Vereins Vielmehr für Alle! und dem Projekt PROSA – Projekt Schule für Alle!

Laura Helene May ist freie Journalistin, u. a. für die An.Schläge und das Missy Magazine. Ihre Schwerpunkte sind internationale Politik und gesellschaftliche Emanzipation.

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