Nicht nur im Lotto ist alles möglich

Wir brauchen dringend Utopien statt Weltuntergangsszenarien, argumentiert Aaron Bruckmiller.

«Wenn die Utopie abgeschafft, die Empörung durch die Skepsis ersetzt ist, der Mitmensch nicht anerkannt, nur toleriert wird: Warum noch schreiben? Wozu leben?» (Erich Hackl, 2019)

Donald Trump will «America First», sein italienisches Double Matteo Salvini möchte an erster Stelle Italien sehen und auf den Zuschauerrängen macht sich die ungemütliche Gewissheit breit, dass alles im großen Kladderadatsch endet, wenn nicht bald Gegenmaßnahmen ergriffen werden. In letzter Zeit ist gerne von ‹großen Erzählungen› die Rede, die angeblich wieder nötig seien, aber tatsächlich neue Marketingstrategien für alte Ideen sind. Doch wer glaubt ernsthaft daran, dass zum Beispiel die Sozialdemokratie durch eine Werbeagentur zu retten ist? Vielen politischen Projekten fehlt heute vor allem eine Vision von einem gesellschaftlichen Zusammenleben, das für möglichst viele Menschen wünschenswert ist. Szenenwechsel, Beginn des vorherigen Jahrhunderts: «Sozialismus oder Barbarei» (Rosa Luxemburg) ist eine Parole von Linken und jenen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben. Dieser selbstbewusste Glaube an die Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft ist im Laufe der Zeit verloren gegangen. Heute steht im Duden als Beschreibung für Utopie: «undurchführbar erscheinender Plan» und «Idee ohne reale Grundlage». Daneben könnten zahlreiche Fotos kleben, von Linken und anderen, die sich als fortschrittlich verstehen, aber eher für Zahlen, Fakten und sozialwissenschaftliche Gesetze erwärmen können, als für die Gefühle und Träume von Menschen.

Rechte Retrotopien

In einer Zeit, die in vielfacher Hinsicht immer unsicherer wird, besetzen nun verrückterweise Reaktionäre den Raum politischer Fantasien. Damit haben wir heute eine besondere geschichtliche Situation. Reaktionäre, also jene, die dafür eintreten, das Rad der Zeit zurückzudrehen, dominieren plötzlich die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, wie es weitergehen kann. Die Schergen der AfD reden ständig von den goldenen 1950er Jahren, als die Welt angeblich noch in Ordnung war, die guten alten Zeiten mit heiler Kernfamilie, staatlicher Abschottung unter völkischen Vorzeichen und derlei mehr. Der Soziologe Zygmunt Bauman nennt diese Denkfigur ‹Retrotopia›, eine Art Utopie der Vergangenheit, in der frühere Lebensweisen glorifiziert werden, die es allerdings so nie gab. Damit stellt die globale Rechte der neoliberalen Lebensform einen Gesellschaftsentwurf entgegen, der für einen bedeutenden Teil der Menschheit offensichtlich erstrebenswert ist.

Das Ende der Utopie?

Auf der Gegenseite fehlt es heute an alternativen Gesellschaftsentwürfen mit ähnlicher Anziehungskraft, an die Kraft der utopischen Möglichkeit will dort fast niemand mehr glauben. In Österreich werben nur noch Glücksspielkonzerne mit «Alles ist möglich». Angesichts der vielfachen Krisen unserer Lebenswelt mag folgende These auf den ersten Blick plausibel erscheinen: Wir können uns utopische Träume von der fernen Zukunft nicht leisten, schon alleine wegen der Dringlichkeit der aktuellen Probleme. Im Gegenteil, dystopische Szenarien vom Weltuntergang würden es als Warnung besser schaffen, die Menschheit wachzurütteln. Der drohende ökologische Untergang lässt grüßen.

Doch langfristig wird sich diese These als politischer Irrtum herausstellen. Selbst wenn Abertausende und Millionen seit Monaten bei Fridays for Future auf die Straße gehen und sich in anderem zivilen Ungehorsam üben: Viele Leute lassen sich nicht dauerhaft durch Warnungen motivieren, dass alles noch schlimmer wird. Die Furcht vor Horrorszenarien könnte vielmehr dazu führen, dass sie sich im Hier und Jetzt einnisten und versuchen, es sich gut gehen zu lassen, solange das eben noch möglich ist. Es ist grundsätzlich auch nicht verkehrt, ein schönes Leben zu begehren. Aber ein gutes Leben für alle wird nur möglich sein, wenn sich im gesellschaftlichen Maßstab etwas ändert.

Dafür braucht es sicherlich eine gesunde Portion Größenwahn. Positive Utopien als fantasievolle Vorstellung von anderen Lebensformen sollten deswegen weit vorne auf der politischen Tagesordnung stehen. Ein besseres Marketing für alte Rezeptbücher ist damit explizit nicht gemeint. Die alten Utopien sind zurecht in Verruf geraten, diese von Intellektuellen oder politischen Gruppen in Hinterzimmern erdachten Idealgesellschaften waren reichlich abstrakt. Zu oft ist die Utopie der einen zur Dystopie für andere geworden.

Utopische Föderationen, beziehungsweise Revolution

Vielleicht ist die Suche nach einem einzigen utopischen Idealzustand von vornherein zum Scheitern verurteilt. Auf jeden Fall werden Utopien im dritten Jahrtausend nur in der Mehrzahl bestehen können, die in einer Art utopischen Föderation versammelt sind. Diese Utopien müssen im Hier und Jetzt verwurzelt sein und an zwischenmenschliche Umgangsformen und gesellschaftliche Tendenzen anknüpfen, die nicht durch Konkurrenz oder patriarchale Denkmuster geformt wurden. Diese konkreten, realistischen Utopien zeichnen sich durch Stärkung solidarischer Beziehungen in allen Lebensbereichen aus, wie die Autorin Bini Adamczak ausführt. In ihrem Buch Beziehungsweise Revolution plädiert sie dafür, sich nicht nur immer darüber zu verständigen, was abgelehnt werden soll. Positive Leitfragen wären laut ihr:

«Wie wollen wir leben? Was täten wir, wären wir frei? Welche Bedürfnisse wollen wir durch welche Arbeiten befriedigen? Welche Welt wollen wir kombinierend erschaffen?»

Wer es gerne konkreter hat: Im Kern geht es darum, weniger scheiße mit sich selbst und den Mitmenschen umzugehen. Nächstenliebe alleine wird uns zwar nicht retten, doch die kleinen Fortschritte können wertgeschätzt werden, ohne dass die Hoffnung auf gesellschaftliche Umbrüche verloren geht. Sich vom Kleinklein der alltäglichen Auseinandersetzungen nicht ablenken zu lassen, sondern in Generationen zu denken, diese Lektion haben uns die Kids von Fridays for Future eindrücklich erteilt. Denn wenn uns das diesseitige Leben so schlecht gemacht wird, Kinder, dann müssen wir eben das Paradies überfallen.

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