Vorübergehend gestreikt

Sophie Houlbreque über die Hintergründe der französischen Kulturstreiks.

 

Nach den LehrerInnen und PensionistInnen ist Frankreich seit Juni von einer neuen Protestwelle gekennzeichnet, die diesmal die Kultur betrifft. Eine neue Vereinbarung der Sozialpartner ändert den Status der „intermittents du spectacle“, der die sozialrechtlichen Rahmenbedingungen der nur vorübergehend beschäftigten französischen BühnentechnikerInnen und KünstlerInnen regelt.

Die Protestbewegung wurde stark unterstützt und hat imSommer mehrere hundert Aktionen in ganz Frankreich hervorgerufen. Vor allem aber hatte sie die Absage größerer kultureller Veranstaltungen wie des Festival von Avignon – ein symbolträchtiges Theaterfestival, das seit seiner Gründung durch André Malraux 1947 nie abgesagt werden musste –, des Opernfestival von Aix en Provence und des Musikfestival Francofolies zur Folge. Das Straßentheaterfestival von Aurillac fand zwar statt, anstelle der geplanten Vorführungen wurden jedoch meist die sozialen Hintergründe der Streikaktionen inszeniert.

Der Status der „intermittents“ wurde geschaffen, um den Eigenheiten künstlerischer Berufe gerecht zu werden. EinE KünstlerIn oder einE TechnikerIn, die für ein Konzert, eine Theater- oder Tanzproduktion oder einen Film arbeitet, wird nur für die reell auf der Bühne bzw. am Set verbrachte Zeit bezahlt, Vorbereitungszeiten (Proben, Einstudierung, Anreise, etc.) werden nicht entlohnt.

Der Status, geregelt in den Anhängen zur Allgemeinen Arbeitslosenversicherung, ermöglicht es BühnentechnikerInnen und KünstlerInnen Ansprüche auf Arbeitslosengeld für ein Jahr zu erwerben, wenn sie mindestens 507 Stunden Beschäftigung innerhalb der letzten 12 Monate nachweisen können. Die Höhe der Entschädigung berechnet sich nach dem Durchschnitt der erhaltenen Gehälter. Dadurch können KünstlerInnen und TechnikerInnen während der Erarbeitungszeit und Probenzeit Arbeitslosengeld erhalten.

Seit über 10 Jahren verlangen namhafte Vereinigungen von Wirtschafts- und Gewerbetreibenden1 die Änderung, oder besser gleich die Abschaffung dieses Status, der Urheber eines Defizits von 828 Mio. Euro sein soll. Ende Juni haben diese Unternehmerverbände und drei kleinere gemässigte Gewerkschaften2 ein Abkommen unterzeichnet, das diese speziellen Regelungen, die noch zu Jahresbeginn abgeschafft werden sollten, verlängert hätte – jedoch lehnten das die linken Gewerkschaften CGT und FO3 ab. Ihrer Einschätzung nach hätten dadurch 30% der „intermittents“ keinen Anspruch mehr auf die Arbeitslosenunterstützung. Dadurch wären gerade die Schwächsten betroffen, die ohnehin schon Schwierigkeiten hatten, die jährlichen 507 Stunden überhaupt erreichen zu können.

Ab Beginn 2004 ist es notwendig, 507 Stunden Beschäftigung innerhalb von nur mehr 10 (10,5 für KünstlerInnen) statt bisher 12 Monaten nachzuweisen, um Anspruch auf die Arbeitslosenversicherung zu erwerben, der dann nur mehr für acht statt 12 Monate gilt.

Andererseits sieht das jetzige System eine Wartefrist vor, innerhalb der kein Arbeitslosengeld ausgezahlt wird, die „intermittents“ erhalten die Arbeitslose also erst nach einer entschädigunsfreien Periode. Diese wurde bisher aufgrund des Jahreseinkommens und der durchschnittlichen Tagesgage berechnet. EinE MusikerIn, die/der 45 Gagen in der Höhe von 300 Euro innerhalb von 10 Monaten erhalten hätte (Jahreseinkommen 13.500 Euro), hätte eine Karenzzeit von 30 Tagen, während einE KomikerIn mit 250 Gagen zu 300 Euro in 10 Monaten (75.000 Euro/Jahr) eine Karenzzeit von 170 Tagen hätte.

In Zukunft wird diese Dauer nur mehr nach dem durchschnittlichen Tageshonorar berechnet, und diese beiden KünstlerInnen hätten aufgrund der gleichen Tagesgage dieselbe Wartefrist (6 Monate für eine durchschnittliche Tagesgage von 300 Euro), obwohl ihre Jahreseinkünfte verschieden hoch sind. Abgesehen von der zunehmenden Prekarisierung und Verunsicherung, die die Streikenden beklagen, bot die Streikserie Gelegenheit, unterschiedliche Schwachpunkte des Systems ins Licht zu rücken.

FreiberuflerInnen im Bereich Kino und audio-visuelle Kommunikation profitieren gleichermaßen von dieser Arbeitslosenversicherung wie KünstlerInnen und VeranstaltungstechnikerInnen. Die finanziellen Verluste dieser Versicherung sind sicher auch auf Missbrauch durch audiovisuelle Produktionsfirmen zurückzuführen, die nicht davor zurückschrecken, die Arbeitslosenentschädigung zur Senkung ihrer Personalkosten zu verwenden. So ist es z. B. üblich, dass einE TechnikerIn von einer Produktionsfirma offiziell für eine geringere Anzahl von Stunden angemeldet wird, als sie/er wirklich arbeitet, und darauf zählt, dass ein Teil der Lohnkosten von der Arbeitslosenversicherung bezahlt wird. Oder eine Firma stellt eine Produktionsassistentin als „intermittents“ an, obwohl sie die Tätigkeit einer fix angestellten Direktionssekretärin ausübt und eigentlich einen regulären Arbeitsvertrag bekommen sollte.

Anstatt solche Lücken des Systems zu schließen, verspricht die Regierung Maßnahmen zur Bekämpfung des missbräuchlichen Ausweichens auf dieses System. „Dieser Status wurde eingeführt, um spannende, sperrige und manchmal unsichere künstlerische Abenteuer zu ermöglichen. Kann er auch – zu den selben Bedingungen – für große, teure, und manchmal gewinnbringende Produktionen gelten? Diese Frage bringt uns zu einer anderen – gerade hochaktuellen – Frage nach der Definition eines audiovisuellen Werkes“, merkt der französische Kulturminister Jean-Jacques Aillagon an.

Die Versagen des Systems der „intermittents“ ist seit langem bekannt, Reformen wurden aber nicht eingeleitet. Hat sich der Staat nicht einfach lange Zeit auf dieses System gestützt, um die künstlerische Produktion in Frankreich zu subventionieren? Der Kulturminister erkennt diese Tatsache an und hat die Einführung eines „Systems der Unterstützung des kulturellen Schaffens, besonders für die jungen Kulturschaffenden“ angekündigt.
Da die Reform des Sozialversicherungssystems der „intermittents“ und die Protestaktionen, die sie hervorgerufen hat, tiefgehende Fragen über die französische Kulturpolitik aufwirft, hat der Kulturminister eine nationale Enquete“für die betroffene Bereiche Darstellende Kunst, Kino, Festivals, Theater etc. im Herbst angekündigt.

Sophie Houlbreque

intermittents-danger

fnsac-cgt
labournet

1 MEDEF (Mouvement des Entreprises de France – Bewegung der französischen Unternehmer) und davor CNPF – Conseil National du Patronat Français (Nationalrat der französischen Unternehmer)
2 die CFDT (Confédération Française du Travail – Französischer Verband der Arbeit), die CGC (Confédération génerale des cadres – allgemeiner Verband der höheren Angestellten) und die CFTC (Confédération française des travailleurs chrétiens – Französischer Verband christlicher Arbeiter)
3 Die CGT (Confédération génerale du travail – allgemeiner Verband der Arbeit) und die FO (Force ouvrière – Kraft der Arbeit)
Übersetzung: Udo Danielczyk

 

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