Schreiben ohne Stereotype?

Über Sensitivity Reading, wie Kunst und Kultur dadurch besser für uns alle wird und wieso es dabei nicht um Zensur geht. Von Lisa-Viktoria Niederberger.

Ich bin eine weiße, in die österreichische Mittelschicht geborene, bisexuelle cis Frau und ich bin Autorin. Für eine lange Zeit entsprachen die meisten Figuren meiner Texte diesen Kategorien. Verlassen Figuren die Zonen, die mir als Autorin persönlich vertraut sind, habe ich neben Recherche noch eine weitere Möglichkeit, die mir helfen kann, Lebensrealitäten möglichst authentisch wiederzugeben: Ich kann ein Sensitivity Reading in Anspruch nehmen.

Diskriminierungsfreier und sensibilisiert

Personen, die Sensitivity Reading anbieten, arbeiten mit Autor*innen, Agenturen und Verlagen zusammen und prüfen Manuskripte nach zuvor vereinbarten Kategorien, z. B. Rassismus, queere Repräsentation, Ableismus, Sexismus, etc. Gemeinsam wird versucht, Texte diskriminierungsfreier zu formulieren.

Aber es gibt auch Kritik am Sensitivity Reading, wobei ‹Kritik› es nicht so ganz trifft. Harald Martenstein, Kolumnist beim ZEITMAGAZIN bezeichnete es 2019 nicht nur polemisch als «Prüfstelle», sondern auch als «Ende der Literatur» und die Wiener Zeitung fragte letztes Jahr: «Ist das nun sprachliche Sensibilität oder Sprachpolizei?» Es wird gerne so getan, als würde der Literatur oder den Autor*innen etwas weggenommen werden, der Zensurvorwurf steht im Raum. Dabei geht es bei Sensitivity Reading nicht um Verbote, sondern um Vorschläge. Um genuine Repräsentation und um ein einfühlsames Abbilden von Personen und Erfahrungen, die außerhalb der persönlichen Erlebnisse der Schreibenden liegen.

Aber auch von Seiten mancher Sensitivity Reader*in gibt es Einwände. Diese betreffen jedoch nicht die Sache selbst, sondern die Bezeichnung sowie die Assoziationen, die diese weckt. Im Englischen und auch im Deutschen schwingt bei ‹sensitiv› bzw. ‹sensibel› für manche Personen eine Wertung mit. Das klingt dann nach: Die sind zartbesaitet, halten nix aus. Dabei geht es, und das ist das große Missverständnis, bei Sensitivity Reading weder um Empfindlichkeit noch um Zensur. Dhonielle Clayton, Herausgeberin der Anthologie A Universe of Wishes: We Need Diverse Books, bezeich- net sich selbst als «targeted beta reader» und versteht ihre Arbeit als eine Form des Expert*innenlektorats und der Beratung, wie sie im Filmbereich längst üblich ist. An Jurassic Park z. B. arbeiteten Paläontolog*innen und für Krankenhausserien sind es oft Ärzt*innen, die Diagnosen und Behandlungsansätze zusammenstellen.

Bereitschaft für Entwicklung

Sensitivity Reading ist also in manchen Sparten längst etabliert. Der Literaturszene und anderen Kunstsparten sowie Kulturinitiativen täte es gut, nachzuziehen, die Fragen ernst zu nehmen: Wen sprechen wir an? Für wen sprechen wir? Wie tun wir das? Ob in literarischen Texten, Drehbüchern, Pressestatements, Mitgliederaussendungen, Konzepten, … – mit Text wird in vielen Bereichen gearbeitet.

Ja, das klingt nach Arbeit, nach Zeit- und nicht zuletzt Geldaufwand. Nach Umdenken und der Bereitschaft, Fehler und Voreingenommenheit einzugestehen. Ein kollektiver und individueller Entwicklungsprozess, den wir aber als Kunst- und Kulturbetrieb, der sich Allyship und solidarisches Miteinander gerne auf die Fahnen schreibt, angehen sollten, wenn wir das, was wir predigen, ernst nehmen. Menschen mit Marginalisierungserfahrungen werden auch am Buchmarkt und der Kunstszene ausgegrenzt, wohingegen sich zeitgleich immer mehr der Mehrheitsgesellschaft zugehörige Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen mit Diversität und Privilegien auseinandersetzen. Zum einen geht es dabei um gesellschaftliche Missstände, die dringend geändert gehören, zum anderen liegt ein Teil der Verantwortung bei den Akteur*innen selbst. Dass wir, die wir Stereotype verinnerlicht haben, mit allen unseren Texten bzw. den Personen, Figuren und Charakteren, die darin vorkommen und die wir ansprechen, repräsentieren oder einbeziehen wollen, respektvoll umgehen. Und uns, wenn wir schreiben, durch kundige Beratung unterstützen lassen, anstatt Stereotype zu reproduzieren.

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