Vera soll’s richten…

… aber was genau – und wie? Katharina Serles hat bei Edda Breit, Vorstandsmitglied jenes Vereins, der den Kulturbereich der Vertrauensstelle vera* abdeckt, nachgefragt.

“Vera soll’s richten” ist ein Zitat von Clara Gallistl in ihrem persönlichen KUPFzeitungsbericht über sexualisierte Übergriffe im Kulturbetrieb. Sie war es auch, die vera* mit-initiiert hat.

Katharina Serles: Was ist vera* und wieso braucht es sie?

Edda Breit: vera* ist die Dachmarke für zwei Vereine der Sport- und Kulturbranche: der Verein 100% Sport und der Verein Vertrauensstelle Kunst und Kultur. Menschen, die in irgendeiner Weise das Gefühl haben, dass sie ungerecht behandelt, diskriminiert, gedemütigt werden, oder in über die Maßen belastenden Arbeitsverhältnissen sind, sollen damit eine Anlaufstelle haben. Diese füllt auch eine Lücke: Es gibt viele Gewaltschutz- oder Antidiskriminierungseinrichtungen, aber Künstler*innen haben oft das Gefühl, dass für ihre Belange niemand zuständig ist, weil sich z. B. niemand aus der Gleichbehandlungsanwaltschaft in ihrem Bereich auskennt.

Welches Mandat hat die Vertrauensstelle? Was kann sie tatsächlich tun?

Ursprünglich wollten wir eine Anwaltschaft einrichten, dazu fehlt uns aber der legistische Hintergrund. Wir können in drastischen Fällen Interventionsschreiben aufsetzen, wir können mit ‘Täter*innen-Organisationen’ sprechen, Anwält*innen vermitteln, oder Beratungsstellen der verschiedenen IGs, aber das Hauptaugenmerk liegt auf der Beratung der betroffenen Personen. Ihnen soll aufgezeigt werden, welche Handlungsmöglichkeiten sie haben. Viele werden anonym bleiben und ihre Geschichte loswerden wollen, aber möglicherweise gibt es auch ein paar, die den Schritt vor Gericht wagen.

Schaut man zu eurer ‚Schwesternorganisation‘ in Deutschland – der Vertrauensstelle Themis – wäre genau das zu beklagen: Themis berät zwar massenweise Betroffene (davon übrigens 85 % Frauen), aber gerade mal ein Bruchteil (nicht einmal 4 %) wagen danach eine Beschwerde – aus Angst vor Karriereeinbruch. Ein Drittel der Betroffenen bleibt überhaupt anonym. Wie kann das in Österreich anders aussehen?

Ich glaube nicht, dass es uns anders ergehen wird. Die Hoffnung besteht allerdings, dass man das Bewusstsein so stärken und die Rahmenbedingungen derart verändern kann, dass die gefürchtete existenzielle Bedrohung beim Schritt aus der Anonymität heraus nicht mehr gegeben ist. Aber das wird ein wirklich langer Prozess. Man wird von politischer Seite begreifen müssen, dass gerade die Freie Szene ein so dermaßen unregulierter Bereich ist, dass Willkür Tür und Tor geöffnet ist. Wenn man nicht politisch eingreift, wird sich dieses Unsicherheitsgefühl oder das Gefühl des Ausgeliefertseins auch nicht ändern.

Wie zuletzt in der österreichischen Filmbranche zu sehen war, sprechen Betroffene, wie z. B. Katharina Mückstein, vermehrt öffentlich und auch stellvertretend für viele, outen die Täter*innen aber nicht. Ist das ein alternativer Weg?

Das ist ein Weg, weil eben nicht so viele Wege offen stehen, aber er ist natürlich auch hochproblematisch. Anschuldigungen, die nicht überprüft oder ausjudiziert sind, bedeuten auch eine heikle Gratwanderung. Ich finde es trotzdem großartig, dass sich Leute öffentlich äußern, weil es anderen Betroffenen Mut macht und das Gefühl gibt, kein Einzelfall zu sein. Die Recherche von Sophie Reindl zur Konzeption der Vertrauensstelle hat ergeben, dass 80 % der Befragten Erfahrungen mit übergriffigen Situationen hatten. Aber wirklich ändern können wir nur etwas, wenn die Menschen sich dann auch trauen, ihren Namen zu nennen und vor Gericht zu gehen.

Apropos Veränderung: Am Linzer Landestheater gab es 2021 Berichte aus dem Ensemble über Machtmissbrauch von Seiten der Tanzdirektorin Mei Hong Lin, die dazu führten, dass eine Compliance-Kommission eingerichtet wurde, die im Frühjahr 2022 zum Ergebnis kam, dass sich die Vorwürfe arbeitsrechtlich nicht bestätigt hätten. Man trennte sich schließlich einvernehmlich. Hätte es vera* in diesem Fall schon gegeben – was hätte die Vertrauensstelle (anders) machen können? Wie kann man denn aus solchen Fällen generell etwas für den ganzen Kulturbetrieb lernen?

Solange es keine gerichtliche Verurteilung gibt, kann man niemandem ein Arbeitsverbot erteilen. Menschen, die sich von einem Haus einvernehmlich trennen, können anderswo theoretisch natürlich fröhlich weitermachen. Es fehlt ein Commitment der gesamten Szene zusammenzuarbeiten und sich selbst eine Art Gütesiegel aufzuerlegen, sodass problematisches Verhalten eben nicht mehr geduldet wird. vera* kann hier bewusstseinsbildend unterstützen, aber es braucht wahrscheinlich gerade in der Freien Szene eine große arbeitsrechtliche Veränderung: damit die Sicherheit größer wird und man sich nicht vor einem Abgrund fürchten muss, wenn man den Mund aufmacht.

Wie kontaktiert man vera* und wie läuft das dann ab?

Man erreicht die Mitarbeiter*innen via Kontaktformular auf unserer Website, via E-Mail oder Telefon. In einem ersten, persönlichen Gespräch schildert man sein Anliegen, seine Erlebnisse. Dabei wird vor allem einmal zugehört und ernst genommen. Gemeinsam mit der betroffenen Person wird dann überlegt, welche Schritte gesetzt werden können und welche die Person selbst überhaupt gehen möchte. Diese Entscheidung kann auch revidiert werden: Man kann zu einem späteren Zeitpunkt sagen: “Ich habe mich jetzt entschlossen, ich möchte nicht anonym bleiben.” In jedem Fall geht es um eine bestmögliche Unterstützung für die betroffene Person.

​​Es heißt, vera* plane „Grundlagen-, Kommunikations-, Interventions- und Präventionsarbeit“, um proaktiv zu werden. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?

Zunächst wird die Vertrauensstelle alles dokumentieren: Man wird (anonymisierte) Daten sammeln, die uns in Zukunft helfen, ein Präventionskonzept aufzubauen. So möchten wir etwa Schulungen und Workshops anbieten. Aber das ist eine Ressourcenfrage und wird noch etwas dauern. In jedem Fall wichtig ist die Bewusstseinsbildung, sowohl von Leitungsfunktionen – z. B. von Regisseur*innen, Dirigent*innen, Veranstalter*innen, Intendant*innen – als auch von Künstler*innen selbst. Einerseits muss klar sein, dass künstlerische Freiheit nicht gleichbedeutend ist mit einem respektlosen oder ausbeuterischen Umgang mit Künstler*innen – und andererseits müssen letztere wissen, dass “sich professionell verhalten” nicht bedeutet, dass man sich ausbeuten lassen muss. Man darf “Nein” sagen, wenn eine Grenze überschritten ist. Schließlich geht es darum, die Strukturen so zu verändern, dass sie für die Menschen, die dort arbeiten, befriedigender, gerechter, freudvoller und respektvoller werden. Es geht um eine Verbesserung der Gesamtsituation.

In älteren Quellen war im Projekttitel immer auch von “Machtmissbrauch” die Rede – das ist jetzt in der Bezeichnung von vera* herausgefallen. Wieso das?

Es gab bei uns eine große Diskussion um das Wort “Machtmissbrauch” gegeben, unter anderem, weil ZARA uns dringend davon abgeraten hat. Weil es kein strafrechtlich relevanter Begriff ist, stand die Befürchtung im Raum, dass sich dann sehr viele Künstler*innen mit arbeitsrechtlichen Problemen an uns wenden würden, wofür wir aber nicht zuständig sind. Ich wäre persönlich froh gewesen, wenn das Wort drinnen geblieben wäre, denn es geht tatsächlich um Machtmissbrauch und der ist eben schwer einzugrenzen. Wichtig ist, dass niemand abgehalten wird, sich angesprochen zu fühlen. Jede*r soll sich melden können – übrigens auch egal wie weit die Erfahrung zurückliegt. Wir wissen aus Erfahrung, wie lange das oft dauert, bis man eine Situation selbst einordnen kann und bis man den Mut findet, sich an eine Stelle zu wenden.

Wie seid ihr genau strukturiert und personell aufgestellt?

Der Verein Vertrauensstelle ist Trägerin und hat die Geschäftsführung sowie zwei Mitarbeiter*innen angestellt. Sophie Rendl ist interimistisch Projektleiterin und wird Anfang November abgelöst von Marion Guerrero. Die beiden Mitarbeiter*innen kommen aus der (Gewaltschutz-)Beratung, eine ist außerdem Psychologin mit juristischem Background. Eingeschult wurden sie von ZARA, dem Verein für Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit. Bei Bedarf sollen Beratungstätigkeiten zugekauft werden bzw. wird mit Organisationen kooperiert.

Wird eure Arbeit evaluiert?

Ja, sowohl die Daten werden in anonymisierter Form evaluiert, als auch die Mitarbeiter*innen, die permanent Supervision erhalten. So soll in einer Rückschleife immer überprüft werden: Ist die Arbeitsweise noch angebracht? Was müssen wir verbessern? Wo müssen wir nachschärfen? Brauchen wir noch Ressourcen?

Für wie lange ist vera* finanziert und in welcher Höhe?

Wir haben eine Basisförderung in der Höhe von 200.000 €. Dabei haben wir für den Kulturbereich um ein weitaus höheres – trotzdem detailliert durchgeplantes und alles andere als aufgeblasenes – Budget angesucht, das uns allerdings abgeschmettert wurde. Gemeinsam mit 100% Sport können wir verschiedene Dinge nun gut teilen – seien es Kosten für Kampagnen oder die Website –, aber das Budget ist so immer noch knapp berechnet. Zukünftig möchten wir auch bei den Ländern ansuchen; im Moment sind wir ausschließlich vom Bund finanziert. Es wäre jedenfalls klug gewesen, diese Vertrauensstelle nicht mager zu besetzen und sozusagen einmal zu schauen, was auf uns zukommt. Möglicherweise ergibt sich ein unglaublicher Stau an zu bearbeitenden Fällen. Wir hoffen aber, dass wir dann doch noch aufstocken können.

Was entgegnest du der Befürchtung, bloß Feigenblatt für die Politik zu sein?

Das steht immer wieder im Raum: Dass man uns ein bisschen Geld gibt, gerade nicht genug, um wirklich arbeiten zu können, aber genug, um ruhig zu bleiben. Ob das zutrifft, wird sich zeigen. Wir werden sicher nicht aufhören, weiter dafür zu arbeiten, dass die Ressourcen erhöht werden und dass dieser Prozess weitergeht. Wir sind jedenfalls wirklich froh, dass es diese Stelle nun gibt. Sie ist absolut notwendig. Es war auch eine Herausforderung uns – anders als Themis – nicht nur auf sexuelle Übergriffe zu spezialisieren. Bei vera* geht es genau um den Graubereich, um Situationen, die in einem ‘Dazwischen’ liegen. Da geht es z. B. um das ganz subtile Unter-Druck-Setzen. Das ist oft schon grauslich genug. Da haben wir das Rad quasi neu erfunden.

In ihrem Konzeptionsbericht für die Vertrauensstelle schrieb Sophie Rendl ausführlich über die Notwendigkeit der Unabhängigkeit von vera*. Nun sitzen aber über den Vorstand der Kulturrat und die IGs drinnen, deren Mitglieder ev. vorwurfsbelastet sein könnten. Kann es da nicht zu Situationen der Befangenheit kommen?

Nein, hier wird strikt getrennt, der Vorstand hat streng darauf geschaut, dass eine Grenze eingezogen wird, damit nichts geleaked werden kann. Das wäre der worst case und würde das Vertrauen sofort ruinieren. Die Angestellten arbeiten unabhängig vom Vorstand und aus der Vertrauensstelle dringt nichts nach Außen; auch der Vorstand des Vereins erfährt nichts über die konkreten Fälle.

Das kulturarbeiterische Know-How kommt aber doch vom Vorstand?

Das wird noch ein heikler Punkt sein, hier wird man möglicherweise eng zusammenarbeiten müssen.  Wenn es um knifflige Fragen geht, wo die Expertise des Vorstands gefragt ist, wird jedenfalls strengst anonymisiert. Wir haben aber auch einen Beirat eingerichtet, der uns beratend zur Verfügung steht.

Wie kann man die Arbeit von vera* unterstützen?

Wir brauchen noch ein Spendenkonto; man kann als Verein im Kulturbereich jedenfalls Mitglied werden und dann in der Mitgliederversammlung auch für den Vorstand kandidieren.

Institutionen wie eure sollten ja eigentlich das Ziel haben, sich selbst abzuschaffen. Ist das möglich?

Die Vertrauenstelle ist kein Wunderding, das von heute auf morgen alle Probleme lösen wird. Wir haben die Gleichbehandlungsanwaltschaft seit vielen Jahren und sie hat sich noch nicht erübrigt. Wenn man den Kampf um bessere Strukturen allerdings zusammendenkt – etwa mit dem Fair Pay-Prozess und dem Fairness-Prozess, der im Ministerium läuft – kann man das als Vision natürlich formulieren.

Edda Breit, Musikerin, Mitglied des Ensembles „extracello“, lehrt an den Musikschulen Wien und an der Universität für Musik und darstellende Kunst, Vorstandsmitglied im Verein Vertrauensstelle gegen Belästigung und Gewalt in Kunst und Kultur und in der IG freie Musikschaffende.

vera* ist die seit September 2022 operativ tätige Vertrauensstelle gegen Belästigung und Gewalt in Kunst, Kultur und Sport. Sie wird von zwei unabhängigen Vereinen (100% Sport – österreichisches Zentrum für Genderkompetenz im Sport und Verein Vertrauensstelle gegen Machtmissbrauch, Belästigung und Gewalt in Kunst und Kultur) betreut. Kulturtätige und Sportler*innen, die sich z. B. ungerecht behandelt, diskriminiert, belästigt oder gedemütigt fühlen, erhalten hier vertraulich und kostenlos Beratung. Im Verein Vertrauensstelle sind derzeit drei Personen angestellt: Sophie Rendl ist interimistisch Projektleiterin und wird Anfang November abgelöst von Marion Guerrero. Zwei Mitarbeiter*innen kommen aus der (Gewaltschutz-)Beratung und wurden von ZARA – Verein für Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit eingeschult.
www.vera-vertrauensstelle.at

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