Fake-Profile, ein geheimer Fortschritt

Im konservativen Afghanistan testen junge Menschen auf Facebook die Geschlechtergrenzen.

In Afghanistan, berichtete das US-Magazin The Atlantic, geben sich Frauen auf Facebook als Männer aus, um mit Männern Kontakt aufzunehmen. Sie schreiben ihnen unter einer falschen Identität, finden heraus, ob der Mann vergeben ist, und erzählen ihm dann, sie wüssten von einer Frau, die an ihm interessiert sei – eben sie selbst. Es folgt ein Link zum echten Profil und dann wird gewartet, ob der Mann sich meldet. Das Ganze gibt es auch mit umgekehrten Rollen, also Männer, die sich als Frauen ausgeben, und andere Frauen anschreiben. Sie chatten miteinander, und die falsche Frau versucht, so viel wie möglich über die andere herauszufinden. Letztlich legt man die Karten aber dann offen auf den Tisch und ‚outet‘ sich als interessierter Mann. 

Was ich wohl als betrügerisches, ja bisweilen übergriffiges Verhalten einordnete, ist in der konservativen afghanischen Gesellschaft ein Befreiungsschlag für die Geschlechterverhältnisse. Zwar wird das auch missbraucht, agieren wohl zahlreiche Menschen mit unlauteren Absichten hinter den falschen Profilbildern (laut Atlantic übrigens bevorzugt mit Profilbildern von türkischen TV-Stars). Aber in Afghanistan sind Geschlechterrollen starr, werden die meisten Ehen nach wie vor vermittelt, ist das Konzept des ‚Dating‘, also des unverbindlichen, schrittweisen Kennenlernens, unbekannt. Die Fake-Profile sind eine der wenigen Möglichkeiten, mit Menschen des anderen Geschlechts zu kommunizieren. All das zeigt, wie wichtig Anonymität ist. 

Und nicht nur das: Fake-Profile bieten auch die Möglichkeit, in eine andere Geschlechterrolle zu schlüpfen. Vielleicht werden dabei die traditionellen Rollen einzementiert, aber zumindest werden ein klitzekleiner virtueller Perspektivenwechsel und somit mehr Reflexion erlaubt. Bei mir ist dieser geglückt: Die Vorstellung, dass sich hinter einem Fake-Profil ein ernsthaftes romantisches Ansinnen verbirgt, finde ich nämlich rührend. Vielleicht habe ich dem nigerianischen Prinzen aus meinem Spam-Mail-Ordner unrecht getan? Vielleicht gibt es ihn ja wirklich? Und ist jede Viagra-Werbung eigentlich ein aufwendig verschlüsselter Leser*innenbrief voll Komplimenten, jeder Twitter-Troll ein einsames Herz? 

Sich das so vorzustellen, macht das Internet zu einem schöneren Ort.

https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2018/09/facebook-fake-outs/565748

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