Girlpower

„Neunundachzig“, sagt der Mann, „das sind wir.“

Bejahendes Gemurmel aus der kleinen Gruppe. Sie legen ihre Jacken und Taschen in die Gepäcksablage und verteilen sich selbst auf den Plätzen, die ihnen die deutsche Bahn zugewiesen hat.

„Die Nachbesprechung hier zu machen ist vielleicht ungünstig…“, sagt jemand. Man schaut sich um, die Blicke fallen für einen Moment auf mich. Man ist sich stillschweigend einig, dass ich kein Hindernis für das Vorhaben darstelle. Die Gruppe formiert sich direkt hinter meinem Platz und teilt ihre Eindrücke über Konferenzvorträge, ihre Einschätzungen, wie nun weiter vorzugehen ist. Gebildete Menschen sind es zweifelsohne; was sie sagen, ist nicht uninteressant.

Wie die meisten hier, habe ich mir einen Platz im Ruheabteil reserviert, um die lange Fahrt von Stuttgart nach Berlin selbst zum Arbeiten nutzen zu können, was der Lärmpegel mir nun unmöglich macht. Ich warte ab, ob das Gespräch von selbst abklingt. Es ist mir unangenehm, Leute öffentlich zurechtzuweisen; ich will meine Ruhe, keinen Konflikt. Nach zehn Minuten sind die Gesprächsführenden aber erst richtig warmgelaufen, das nächste Thema wird eröffnet. Ich stehe auf.

„Entschuldigung“, sage ich, links sitzen zwei Frauen, hinter mir zwei ältere Herren, bei ihnen steht ein junger Mann, „falls die Team-Sitzung noch länger dauert, könnten Sie sie bitte in den Speisewagen verlegen?“

„Ja, weil hier der Ruhebereich ist. Es steht ja auch ganz groß überall. Entschuldigung“, sagt eine der Frauen. Auch der jüngere Mann entschuldigt sich und geht zu seinem Platz.

Die beiden Älteren beginnen mich schmunzelnd zu mustern. Ob so ein Gruppengespräch im Ruheabteil schon verboten wäre, fragt mich der eine.

„Wie sollte man sich denn Ihrer Meinung nach im Ruheabteil verhalten?“, frage ich zurück. Ich bedanke mich bei der restlichen Gruppe, setze mich wieder.

Die Herren hinter mir beginnen zu lachen.

„Das hätte man sich früher nicht getraut“, beschwert sich der eine.

„Girl Power“, sagt der andere, lacht und ruft lauter: „Girl Power!“

„Verzeihung“, sage ich und drehe mich zu den beiden, „ich kann hören, wie Sie über mich sprechen. Das ist nicht besonders höflich.“

Der eine lächelt mich milde an.

„Wir schätzen Sie sehr“, sagt er zu mir, als sei ich gleichermaßen minderbemittelt wie hysterisch.

„Ich schätze Sie auch sehr“, sage ich wütend und drehe mich um.

Der Rest der Gruppe und die anderen Fahrgäste geben vor, von der Situation nichts mitzubekommen.

In meiner Wut poste ich meine Erfahrungen in einer Instagram-Story während hinter mir einer der Männer vor sich hinbuchstabiert: „G. I. R. L.“

Mein Insta-Postfach quillt innerhalb kürzester Zeit über. Frauen, die mir von ähnlichen Eindrücken im öffentlichen Verkehr berichten. Kaum ein Mann meldet sich, schon gar keiner, bei dem meine Schilderung der Situation Erinnerungen an ähnlich leidvolle Erfahrungen abzurufen scheint.

Hinter mir beginnen die Männer jetzt über die AfD und den Rechtsruck zu diskutieren, über Mitläuferschaft. Sie sind überdurchschnittlich gebildet, das tragen sie mit jedem Wort nach außen, wahrscheinlich lehren sie irgendwo an einer Universität. Immer lauter sprechen die Männer jetzt über die ihnen wichtigen Themen, im Selbstbewusstsein darüber, gewonnen zu haben. Dass das junge Mädchen, das „Girl“ im Ruheabteil ihnen gar nichts zu sagen hat. Dass das Girl im öffentlichen Raum ein Girl bleibt, selbst wenn es gleich alt ist, wie der österreichische Bundeskanzler, selbst wenn es alt genug ist, dass es jeder Dahergelaufene in jedem beiläufigen Gespräch es ermahnen darf, dass seine Eierstöcke am absteigenden Ast baumelten und es zusehen müsse, zeitnah Kinder in diese Welt zu setzen. Und wie dieses Girl argumentiert, wie sehr es auch im Recht sein mag, so untersteht es in der Realität des ICE der Autorität der alten Männer – und der der Gruppe. Denn auch der Rest der Konferenzteilnehmer*innen, der sein Fehlverhalten bei meiner ersten Aufforderung sofort korrigiert hatte, wird jetzt wieder lauter. Man beginnt sich über die Sitze hinweg zu unterhalten, jemand beginnt ein Telefonat.

Ich schäme mich. Ich fange an, mich selbst in Frage zu stellen. Du hättest nichts sagen müssen, denke ich, du hättest deinen reservierten Platz auch verlassen und dir einen anderen suchen können. Ich denke wieder an den milden Blick des ersten Herren, der milde Blick der die hysterische Frau zur Kontenance aufruft. Vielleicht, denke ich, hat er recht. Immerhin sind all das kluge und angenehme Menschen, mit denen ich mich in einem anderen Kontext gerne unterhalten hätte.

Währenddessen – ein Outrage auf Instagram. Frauen, die mir beistehen; immer mehr von ihnen, die meine Story in ihren Feeds teilen oder ihre eigenen Erfahrungen teilen. Innerhalb einer Stunde habe ich mehr als fünfzig solcher Erlebnisberichte in meiner Inbox. Und plötzlich dazwischen: eine andere Mail, ein Glückwunsch. Gerade muss irgendwo anders auf der Welt eine Pressekonferenz stattgefunden haben, in der ein Politiker und eine Jury zusammengetreten sind und verkündet haben, dass ich einen Literaturpreis gewinne. Immer mehr Glückwünsche quetschen sich in der Inbox zwischen die Berichte von weiblichen Ohnmachtserlebnissen. Auch die digitalen Männer haben jetzt ihre Stimme wiedergefunden. Sie freuen sich für mich, sie gratulieren.

Ich lege das Handy weg und befinde mich wieder in der Realität. Ein Teil von mir will sich zu den Herren umdrehen und rufen: „Wisst ihr überhaupt, wer ich bin?“ Dieser Teil möchte ihnen einen Ordner vorlegen, mit Zeugnissen, mit Zeitungsberichten; er möchte ihnen Laudationen vorlesen und Gedichte zitieren. Möchte jede kleinste Leistung vor der Gruppe ausbreiten, einen Stapel daraus bauen und daraufsteigen, bis das Girl den Männern endlich auf Augenhöhe ins Gesicht schauen und sie von Mensch zu Mensch darum bitten kann, im Ruheabteil die Regeln einzuhalten.

Mein Handy blinkt, wahrscheinlich der nächste Glückwunsch. Ich verschränke die Arme und denke: Ich will eure Preise nicht. Ich will eure Lobreden nicht. Ich will eure Artikel nicht. Ich will eure Fürsprache in auf Social Media und in der Öffentlichkeit nicht. Ich will eure Einladungen auf Podien und Festivals nicht. Ich will nicht, dass ihr den Namen Eva Gruber mit Begeisterung in den Mund nehmt, wenn ihr es nicht schafft, die junge Frau am Nebensitz in der Bahn als gleichwertiges Wesen zu behandeln. Wenn ihr diversity in der Vorlesung super findet, aber am lautesten bei jedem schwulen- oder ausländerfeindlichen Witz mitlacht. Wenn ihr das Maul nicht aufkriegt, wenn jemand hinter dem ihr digital steht, im echten Leben auf euer wahres Rückrat angewiesen wäre.

In Frankfurt steigt die Gruppe aus. Die ältere der beiden Frauen bleibt beim Ausgang stehen und läuft unter einem Vorwand noch einmal zurück. Sie beugt sich zu mir. „Entschuldigung“, sagt sie, „es tut mir leid. Es ist so peinlich.“ Ich öffne den Mund, um ihr zu antworten. Sie schaut sich schnell um, ob ihre Kollegen sie auch nicht beobachten.

„Aber Sie haben das super gemacht“, sagt sie, klopft mir auf die Schulter und rennt davon.

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