Realität und Utopie

Ein Leitungsteam hat vor drei Jahren einen Theaterbetrieb übernommen. Nun stellt es sich zur Wiederwahl. Ein Leitartikel aus der Zukunft von Clara Gallistl.

Wir stellen uns zur Wiederwahl. Wir sind das Leitungsteam dieses Hauses. Wir sind vor drei Jahren hier angetreten und haben den Fortschritt versprochen. Unser Vertrag ist abgelaufen, aber wir würden gerne bleiben. Im Folgenden skizzieren wir, was wir bisher für euch erreicht haben – im Namen von Diversität, Nachhaltigkeit und einem respektvollen Miteinander. Wir hoffen, dass ihr euch in diesem zurecht komplexen und transparenten Auswahlverfahren für uns entscheidet.

Änderungen und Chancen

2021 war die Kunst- und Kulturwelt geprägt von Corona. Wir haben die Bruchlinien benannt und die Chancen der allgemeinen Verunsicherung erkannt. Wir haben auf das Kollektiv gesetzt und den Ungleichheiten radikal zur Sichtbarkeit verholfen. Was haben wir an diesem Haus vorgefunden?

Eine hierarchische Struktur des Oben und Unten, Abteilungen mit wenig Verständnis füreinander, Vorurteile gegen Menschen, die „anders“ sind als die, die immer schon am Haus waren, einen unglaublichen Druck, gute Zuschauer*innenzahlen und Medienberichte zu produzieren.

Wir wollten alles richtig machen. Faire Bezahlung, angefangen bei den geringsten Einkommen. Wir haben Schwarze Künstler*innen ans Haus geholt, mit migrantischen Kultur- und Bildungsvereinen kooperiert, um unser Publikum zu erweitern. Wir haben im Haus die Ensemblebesprechungen für alle Abteilungen geöffnet. Und ja, wir wollen das hier transparent machen: Wir sind mit unserer Utopie gescheitert. Denn wir stehen hier, überrascht von der Intensität der Konflikte, die dieses Haus durchziehen, die durch unsere offene Herangehensweise an die Oberfläche gekommen sind; in offener Auseinandersetzung, in Streit, in Manipulation, in Lügen und Übergriffen. Wir waren, wir sind überfordert von der Gleichzeitigkeit der offenen Brüche. Und gleichzeitig wollen wir diese offene Gemengelage als Chance begreifen.

Wir haben begonnen, das System zu verändern. Nach drei Jahren des Umwühlens und Andersmachens liegt der Acker dieses Hauses offen da. Wir haben gerade erst begonnen, die vage Vorstellung einer gerechteren Art des Kunstmachens zu säen. Wir möchten bleiben und den Prozess weiter fortsetzen.

Was wir planen

In unserem nächsten Kapitel an diesem Haus wollen wir auch daraus lernen, dass wir unsere Ansprüche vielleicht überhastet umzusetzen versucht haben und es nicht ausreichend gelungen ist, Macht zu kollektivieren. Dabei können uns Fragestellungen helfen, wie: Wann haben wir uns das letzte Mal wirklich selbst reflektiert? Nicht unsere Gefühle, sondern unser Verhalten? Wann haben wir das letzte Mal den Menschen, der Kunst, der Natur oder den kulturellen Praxen um uns herum wirklich zugehört – ohne daraus etwas „lernen“ oder dazu etwas „sagen“ zu wollen? Wann haben wir das letzte Mal etwas anderes sprechen lassen, ohne schon während dem Zuhören unsere eigenen Gedanken dazu zurechtzulegen? Wann haben wir unser Gegenüber zuletzt als Person wahrgenommen und nicht als Stichwortgeberin unserer eigenen Geschichte? Wann haben wir Fähigkeiten und Rahmenbedingungen gefördert, die Gefühle, Bedürfnisse, Ängste und Wünsche von anderen Menschen wahrzunehmen und trotz ökonomischer Instabilität nicht auf Fördermittel, Preise und Publikumszahlen fokussiert?

Gemeinschaft durch Kunst

Echte Verbindung ist möglich, wenn das Gegenüber nicht als Inspiration für eigene Gedanken, sondern selbstständig als Eigenes existieren darf. Kunst birgt die Kraft, kollektive Erfahrungen hervorzubringen und uns als Gemeinschaft spüren zu lassen. Denn wir werden eingeladen, Verbindung zu spüren, zu leben, zu üben. Durch das Erleben von Geschichten trainieren wir unsere Empathie und werden dadurch zu besseren Gemeinschaftswesen.

Wir bitten euch deshalb, liebe Mitarbeiter*innen, liebes Publikum, liebe Partner*innen, für uns zu stimmen. Wir wählen in diesem Jahr erstmals die Intendanz unseres Hauses selbst – zusätzlich zu strengen betriebswirtschaftlichen Prüfungen und Vorgaben zu sozialer/ökonomischer/ökologischer Nachhaltigkeit.

Nehmt euer Stimmrecht wahr! Lange haben wir dafür gekämpft.

Inspirierende Literatur:
The Care Collective, The Care Manifesto, Verso 2020, 128 Seiten.
Kae Tempest, On Connection, Faber 2022, 144 Seiten.

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