Antonia Tretter wirft einen Blick auf institutionelle Arbeitskontexte und reflektiert, ob Theaterarbeit und Aktivismus ohne Selbstausbeutung möglich sind.
Sich verbinden und vernetzen
Im Zuge der ersten pandemiebedingten Schutzmaßnahmen im März 2020 verlagerten sich viele politische Austauschformate ins Digitale. Gerade Theaterkünstler*innen nutzen seither digitale Kommunikationsmöglichkeiten, um sich über Arbeitsbedingungen und Produktionsverhältnisse auszutauschen. Es sind viele, die Erfahrungen mit (Selbst-)Ausbeutung und asymmetrischen Machtverhältnissen im Theater gemacht haben. Es gibt fast ebenso viele fest angestellte und nicht-institutionell arbeitende Theater-Kolleg*innen, die die Notwendigkeit der Veränderung der bestehenden Verhältnisse sehen und Lust haben, Teil dieses Wandels zu sein. «You are not alone» ist einer der Leitsprüche der Schauspielerin Lisa Jopt, die 2015 zusammen mit der Regieassistentin Johanna Lucke das ensemble-netzwerk gründete. Dazu gehört auch das dramaturgie-netzwerk, das sich 2019 formierte, um Theaterreformbedarf im Allgemeinen und die Verantwortung des eigenen Berufsstandes im Speziellen zu diskutieren, und in dem ich mich seit 2020 engagiere.¹
Entwicklungen durch Corona
Die Pandemieerfahrung wirkte wie ein Katalysator für die Weiterentwicklung theateraktivistischer Netzwerkarbeit. In den Zoom-Runden im Frühjahr 2020 beschlossen wir, der Schockstarre angesichts des Entzugs der Live-Ereignisse und der eigentlichen Arbeitsgrundlage von Publikumskünstler*innen etwas entgegenzusetzen. Um unterschiedliche Krisenerfahrungen zusammenzudenken, erfanden wir eine digitale Veranstaltungsreihe und diskutierten – mit Dramaturgie-Kolleg*innen sowie Expert*innen aus Diversitätsentwicklung, Publikumsforschung, Wissenschaft und digitaler Praxis – folgende Fragen: Wer soll denn jetzt noch bzw. zukünftig wieder ins Theater gehen? Wie können wie Arbeitssituationen verbessern? Welche Themen, Formen und künstlerischen Experimente sind möglich oder gar geboten?² Im Anschluss an die digitale Gesprächsreihe erweiterte sich das dramaturgie-netzwerk in kurzer Zeit sprunghaft: Gründungsmitglieder, Neu-Aktive und Interessierte gründeten unterschiedliche Arbeitsgruppen. Gleichzeitig begannen wir, die eigenen teils heterogenen Positionen und teils homogenen Netzwerkstrukturen kritisch zu befragen: Wer spricht in unseren Runden? Welche Perspektiven fehlen? Welche Kompetenzen haben wir nicht? Es entstand ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass wir uns als weiße³, akademisierte, mehrfach privilegierte Dramaturg*innen selbst verändern müssen, um sensibel und verantwortungsvoll zur Transformation der Institutionen beitragen zu können.
Aktiv sein und erschöpft bleiben
Neben den vielen Ideen, die in der Freude über neue Verbindungen – auch zwischen den Berufsgruppen – wuchsen, entstand einiges Konkretes: Eine Arbeitsgruppe legte etwa eine Handreichung zur anstehenden Intendanzfindung vor. Diese richtet sich direkt an kulturpolitische Akteur*innen und bietet Anregungen für mehr Mitbestimmung, Multiperspektivität und Transparenz. Das stufenweise Ende der pandemiebedingten Schutzmaßnahmen und das an vielen Häusern praktizierte «Weiter so wie früher» konfrontierte uns jedoch bald mit den Grenzen dieses Engagements. Als das Theater-Hamsterrad wieder ansprang, erlebten wir, wie die Erschöpfung jahrelanger Überarbeitung in Überproduktionsbetrieben einige von uns an ihre Grenzen brachte. Für viele Kolleg*innen, die als fest angestellte Dramaturg*innen arbeiten, war die Pandemiezeit keine Ruhezeit. Vielmehr fungierten sie als Krisenmanager*innen zwischen Produktionsstopp und Formatinnovationsdruck. Einzelne Reformpunkte wie die Erhöhung der Mindesteinstiegsgage sind seither u. a. dank des Einsatzes des ensemble-netzwerks und der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger Realität geworden. Doch es bleibt viel zu tun. Die Arbeitszeiten etwa sind vielerorts nicht familien- oder fürsorgefreundlich, neue Leitungsmodelle werden erst an wenigen Orten erprobt und die ungleiche Verteilung von Entscheidungsgewalt und Gestaltungsspielraum bleibt vielerorts unangetastet.
Arbeit und Engagement vereinbar machen
Ich persönlich habe durch mein Engagement im dramaturgie-netzwerk gelernt, dass Strukturveränderungen Zeit sowie Erfahrungen und Perspektiven von Vielen brauchen. Mir ist bewusst geworden, dass viele kleine Schritte der Transformation entschlossen und ohne Blick auf die eigene Karriere gegangen werden müssen. Der größte Anteil von ehrenamtlicher Arbeit wird leise und nicht-öffentlichkeitswirksam geleistet. Meine Reflexion in diesem Beitrag ist bruchstückhaft und kann nicht alle Akteur*innen würdigen, die Pionier*innen für die Theaterarbeit von morgen sind. Was mir gerade Mut macht, ist die unermüdlich machtkritische Bildungsarbeit der Initiative für Solidarität am Theater, das Modellprojekt FAIRSTAGE für diskriminierungsfreie und gute Arbeitsbedingungen an den Berliner Bühnen sowie die künstlerische und kollektive Praxis vieler Kolleg*innen der Freien Darstellenden Künste. Ihnen und all jenen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen für die kulturelle und soziale Teilhabe aller Menschen einsetzen und manchmal nicht wissen, wie sie das mit … (bitte selbst einsetzen) vereinbaren sollen, ist folgende Vision gewidmet:
Vision für Vereinbarkeit
V orbilder für gute Arbeit, Diskriminierungssensibilität und Transformationsprozesse gibt es viele und sie fördern Berufseinsteiger*innen und Nicht-Akademiker*innen. Entsprechende Mentoring- und Tandemprogramme in der Freien Szene und den Institutionen werden durch bundesweite Förderprogramme finanziert.
E hrenamt lässt sich lustvoll, partizipativ, vielfältig und zugänglich gestalten, weil es von Arbeitgeber*innen durch Freistellung bei Lohnfortzahlung gefördert und von Politik und Wirtschaft gleichermaßen als gemeinwohlfördernd anerkannt wird.
R esilienz zu üben ist keine Frage von teuren Coaching-Seminaren mehr; Schul- und Weiterbildungsprogramme, die selbstverständlich kostenfrei sind, vermitteln einen achtsamen und eigenverantwortlichen Umgang mit den eigenen Ressourcen.
E ntscheidungsträger*innen sind leicht erreichbar, dankbar für konkrete Forderungen und beziehen die künstlerisch-kreativen wie sozialen Expertisen der Kulturarbeitenden in ihre kulturpolitischen Entscheidungen mit ein.
I nstitutionen dekolonialisieren sich Schicht um Schicht. Die Transformation zu solidarischen Orten der Teilhabe gelingt, weil sich ein breites Bündnis aus Aktivist*innen, Angestellten, Künstler*innen, Forscher*innen und Kulturpolitiker*innen entschlossen dafür einsetzt.
N etzwerke und Initiativen sind in ständigem Austausch zwischen Institutionen und Zivilgesellschaft. Sie unterstützen die Interessenvertretungen durch künstlerisch-kreative Aktionen.
B eruf & Berufung ist nicht länger eine toxische Wechselbeziehung (vgl. Lisa Basten – siehe auch S. 30 in diesem Heft), weil Selbstausbeutung und gesundheitsgefährdendes Leistungsdenken der neoliberalen Vergangenheit angehören.
A rbeitszeiten sind so angepasst, dass Fürsorgearbeit, Familien- und Privatleben, Freizeit sowie soziales und politisches Engagement für alle Bürger*innen und Künstler*innen möglich wird.
R äume werden von Grund auf intersektional und inklusiv gestaltet – so spiegelt sich die plurale Gesellschaft in Arbeit, Engagement und im Kulturbetrieb wider.
¹ Vgl. Selbstverständnis: „Wir Dramaturg:innen sind mündige Mitdenker:innen in der Gestaltung von Theaterarbeit.
Wir wollen unserer Verantwortung gerecht werden, Theaterräume als künstlerische und soziale Orte erfahrbar zu machen.“ → ensemble-netzwerk.de/drnw/about/was-ist-das-dramaturgie-netzwerk
² Weitere Informationen unter: → ensemble-netzwerk.de/drnw/about/dramaturgie-denkt-corona
³ ‚weiß‘ ist hier kursiv gesetzt, um deutlich zu machen, dass hier eine konstruierte Kategorie und keine Hautfarbe gemeint ist. Sie verweist auf die soziale Position, keine Rassismuserfahrungen im Alltag und Kulturbetrieb zu machen.