Das schöne Grau

Grau gilt als Synonym für Langeweile. Grau kann aber auch für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der komplexen Welt stehen. In ihrer medialen Reflexion präsentiert sich die Wirklichkeit aber gerade als eine der extrem hochgedrehten Kontraste: Null oder eins, ja oder nein, schwarz oder weiß. Auch Journalist*innen, die für Qualität stehen, feiern die Zuspitzung und gefallen sich darin, Interviewpartner*innen mit entweder-oder-Fragen zu scheinbar allgemein verständlichen Antworten zu nötigen. Noch besorgter stimmt mich allerdings eine andere Beobachtung: das undifferenzierte Ungeimpften-Bashing. Auch Menschen, mit denen mich viel verbindet, gefallen sich neuerdings darin, „die Ungeimpften“ pauschal für die aktuelle Situation mit ihren unbequemen Einschränkungen und dem notwendigen Verzicht auf schöne Dinge wie Kunst und Kultur verantwortlich zu machen. Enthemmt klopfen dann etwa Kulturarbeiter*innen, die sich tagsüber Projekte gegen Hate Speech ausdenken, abends Sätze wie „Ich würd’ die Ungeimpften am liebsten erschlagen“ in die Tasten. Der überdimensionierte Grant, der sich in diversen Online-Foren über eine Gruppe von Menschen ergießt, die im Grunde nur eine einzige Gemeinsamkeit aufweist, erschreckt mich. Wer auch Graustufen zulässt, kann zum Beispiel hören, wenn Supermarktkassierer*innen von ihrem Misstrauen erzählen. Sie fühlen sich im Stich gelassen und zurecht verarscht von neoliberalen Politiker*innen, die sich vor allem um ihren eigenen Machterhalt kümmern. Was fehlt, ist die politische Analyse, die zur Erkenntnis führen könnte, dass uns der enthemmte Konsumkapitalismus und eine Politik, die ihn nicht bändigt,   das Leben mindestens so schwer machen, wie das Virus. Hier ließe sich ansetzen. Wenn es uns nämlich gelingt, aus schwarz und weiß grau zu mischen, könnte die aktuelle Krise zur Chance werden. Wir sollten sie nützen! 

PS: Bitte gehen Sie impfen. Ich war schon …

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