Kultur, Krise, Kümmern.

Über das Konzept der Europäischen Kulturhauptstadt und wie es sich unter Berücksichtigung von gesellschaftlichen Fürsorgepraktiken entwickeln könnte. Von Maren Richter.

Wie und wo sind die Schnittmengen des Themas Fürsorge dieser Ausgabe und der Europäischen Kulturhauptstadt? Anlass zur Überlegung ist die vor Kurzem stattgefundene Eröffnung von Salzkammergut 2024, der nunmehr dritten österreichischen Kulturhauptstadt Europas. 
Anstelle einer näheren Analyse des kommenden Programms, zu der ich eingeladen wurde, möchte ich ein paar grundsätzliche und tendenziell kritische Fragen aufwerfen. Allen voran: Inwiefern ist das Format Europäische Kulturhauptstadt (European Capital of Culture, kurz ECoC) noch zeitgerecht? Die ECoC wurde in den 1980er Jahren auf der Suche nach einer neuen europäischen Identität in einem heterogenen europäischen Gedächtnisraum gegründet. Bräuchte es andersartige Kultur-Formate, um die ‘Vielfalt und Einheit’ Europas, Eckpfeiler des ECoC-Gedankens, gegenwartsnäher bewerten zu können? Wie könnten diese Formate aussehen, angesichts der in immer kürzeren Abständen auftretenden planetarischen Krisen und Katastrophen, die bezeugen, dass wir unser Verständnis für Solidarität, Lebensqualitäten und Gerechtigkeit radikal erweitern und überdenken müssen?

Schwierigkeiten und Komplexitäten

Bereits im Jahr 2011 stellt der Kulturwissenschaftler Daniel Habit folgenden Befund in Die Inszenierung Europas? Kulturhauptstädte zwischen EU-Europäisierung, Cultural Governance und lokalen Eigenlogiken: „Da es sich in erster Linie um ein Top-Down-Projekt handelt, muss das Konzept im Kontext des speziellen Politikbereiches gesehen werden, in dem es angesiedelt ist, in diesem Fall also innerhalb der EU-Kulturpolitik.“ (1)
Tatsächlich wurde es für Städte, Regionen und Nationen ab 2007 mit der Veröffentlichung eines konkreten Leitfadens für die Umsetzung – mit explizit formulierten Erwartungshaltungen – seitens der EU Kommission engmaschiger. Das führte dazu, dass man im letzten Jahrzehnt nicht selten den Eindruck hatte, Rhetoriken, Fragestellungen und Dramaturgien schon einmal zuvor gehört zu haben. Innerhalb einer „post-imperialen Europäisierung Europas, verstanden als institutionalisierter Prozess“ (2) (Ulrich Beck) bedient man sich, so scheint es, eines Formelvorrats für Inszenierungspraxen und „intensiv beschworenen Allzweckformeln innerhalb eines Kanons von Spannungsfeldern“ (Daniel Habit). 
Zudem ist es oftmals schwierig zu eruieren, wo bei der ECoC-Programmierung die Kultur endet und die politischen Agenden beginnen, im Zusammenspiel von Selbstbild und Selbstideal einer Kommune oder einer Region. 
Wie viel Platz bleibt also für notwendige neuartige Wunsch- und Wissensproduktionen, in einem Szenario, in dem wir häufig feststellen müssen, dass unser politisches Vokabular längst nicht mehr ausreicht, um die Komplexität eines multikausalen Spannungsgefüges, etwa verursacht durch die Logik des Kapitals, zu erfassen? 

Gesellschaftliche Fürsorgepraktiken

Salzkammergut 2024 hat in der Bewerbung die Auswirkungen des Massentourismus auf die Umwelt zu einem Kernthema erklärt. Tatsächlich ist Overtourism schon lange ein Problem für vulnerable Ökosysteme, aber auch für soziale Gefüge eines Ortes. Ob sich eine Debatte, die in Hallstatt angesichts der Tourismusströme vor Ort bereits seit geraumer Zeit geführt wird, mit einem Tourismus fördernden Festival verbinden lässt, wurde vielfach skeptisch angemerkt. Vor allem aber – und das wäre meine Sorge – stellt sich die Frage: Wie überführt man das Benennen eines Themas in wirksame, elementar andersartige Beziehungsgeflechte im Sinne einer Care-Revolution? Gemeint sind damit die Sorge um und die Rechte für Menschen, Umwelt, Tiere, Pflanzen und Materie, also für die „anderen” menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen gleichermaßen. 
Donna Haraway plädiert als eine der führenden Care- und Feminismus-Denker*innen für ‘Staying with the Trouble’. Mit dem ‘Unruhig Bleiben’, das sie meint, setzt Haraway den dominanten Zukunftsnarrativen, für die es nur technologisch-ökonomischen Fortschritt oder die Apokalypse gibt, ein radikal anderes Konzept entgegen. Dieses erlaubt es, im Hier und Jetzt ökologische und nachhaltige Lebensweisen zu erproben. Ihr Ansatz ist der Aufruf zur Multiperspektivität mit dem Ziel, zugleich den unterschiedlichen Perspektiven zu ihren Rechten zu verhelfen.
Feministische, queere und indigene Theorie und Politik waren in den letzten Jahrzehnten maßgebende Stimmen für die Praxis dieser multiperspektivischen Pflege. Diese wirkt in Verbindung mit sozialer und ökologischer Gerechtigkeit asymmetrischen Herrschafts-, Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen entgegen. Eine damit verbundene Anerkennung gesellschaftlicher Fürsorgepraktiken wird dadurch sichtbar. 

Zur Zukunft von Kulturhauptstädten

Inwieweit eine Europäische Kulturhauptstadt diese unabdingbaren Fürsorgepraktiken anwenden müsste, darüber möchte ich hier nicht spekulieren. Vielmehr möchte ich den Wunsch äußern, von den durch die EU-Kommission erstellten, engmaschigen Einreichkriterien abzusehen, um abseits des ‘Zwangs zur Inszenierung‘ einer Multiperspektivität Raum und Zeit zu geben. 
Die Herausforderung der Programmierung einer ECoC wäre es dann, mit all den finanziellen Mitteln, die zur Verfügung gestellt werden müssen, eine Kulturhauptstadt näher an die Realitäten zu bringen: Prekarisierung, Vulnerabilisierung, Ungleichgewicht und Erschöpfung von Körper, Geist und Materie – also all das was ‘Vielfalt und Einheit’ erst komplettiert. Das gilt gleichsam für urbane wie rurale Realitäten. Unruhig bleiben!


(1) Daniel Habit, Die Inszenierung Europas? Kulturhaupt­ städte zwischen EU­Europäisierung, Cultural Gover­nance und lokalen Eigenlogiken, Waxmann 2011, S.21. ekwee.uni-muenchen.de/vkee_download/habit/ habiteuropa.pdf

(2) Ulrich Beck, Europa neu erfinden — Rede zur Verleihung des Schader-Preises gehalten am 28.04.2005 in Darmstadt. schaderstiftung.de/fileadmin/content/Ulrich_Beck_-_ Europa_neu_erfinden_vom_28._April_2005.pdf

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