Ein Plädoyer für Raum zum Lernen von Katja Frey.
Donnerstagnachmittag in einer Vorlesung zu Projektmanagement. Die Vortragende spricht von ‘barrierefrei’. In meinem Kopf korrigiere ich: ‘barrierearm’. Ich überlege, ob ich sie darauf hinweise, wieso das treffender wäre – entscheide mich dagegen. Sekunden später übernimmt jemand neben mir diesen Part. Die Vorlesung wird an diesem Tag viele Mal unterbrochen, um die Vortragende zu korrigieren.
Unsicherheit ist im Raum spürbar. Menschen, die eigentlich etwas über Projektmethoden wissen wollen, beginnen ihre Fragen mit: „Ich will nichts Falsches sagen, aber …“. Es macht mich traurig. Nicht, weil ich Sprache unwichtig finde – sondern weil Menschen sich nicht mehr trauen, Fragen zu stellen, aus Angst, direkt etwas falsch zu machen. Ich spüre ein Gefühl, das mich schon lange begleitet: Wir verlieren Menschen – nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht mithalten können.
Ein Versuch, zu sensibilisieren
Das ist keine Tirade. Kein Manifest. Aber eine vorsichtig formulierte Bitte. Ein Versuch, Raum zu öffnen. Für Entwicklung, für Differenzierung. Für Mitgefühl.
Ich kenne meine eigene Position: weiß, weiblich gelesen, nicht behindert, Akademikerin der ersten Generation. Ich beschäftige mich seit Jahren mit Diskriminierung, Machtverhältnissen, Awareness, kenne die Theorie – und die Fallstricke. Es gab Phasen, in denen ich jedem Menschen ein Awarenesskonzept überstülpen wollte. Phasen, in denen ich reflexartig korrigiert habe – gut gemeint, aber oft im falschen Moment. Es gab die Wutphase, in der ich nicht verstand, warum es Menschen schwer fällt, marginalisierten Gruppen einfach zuzuhören. Nein, Udo, ich verstehe nicht, wo es dir körperlich schadet, das N-Wort nicht mehr zu benutzen. Und irgendwann kam der Punkt, an dem ich begriff: Awareness ist wichtig – aber kein Allheilmittel. Sie kann auch ausschließen. Vor allem, wenn sie zum akademischen Eliteprojekt wird, das nur noch die erreicht, die ohnehin schon sensibilisiert sind.
Das heißt nicht, dass wir nicht widersprechen sollen, wenn Sprache diskriminiert. Wir dürfen erwarten, dass Personen mit Verantwortung sich fortbilden und sensibel sprechen. Aber es heißt eben auch: Nicht jede Ungenauigkeit ist ein Angriff.
Nicht jede Person, die ‘Safe Space’ sagt statt ‘Safer Space’, ist automatisch ein Feindbild. Viele Menschen wollen etwas verändern. Sie haben nur (noch) nicht die richtigen Begriffe. Oder keine Zeit, sich durch seitenlange Glossare zu lesen. Oder Angst, ausgelacht oder belehrt zu werden.
Besser sein
Der Better-Than-Average-Effekt ist ein psychologisches Phänomen: Wir glauben, besser zu sein als der Durchschnitt. Auch im Aktivismus. Wir wissen mehr, haben uns tiefer eingelesen, nutzen die präziseren Begriffe. Aber genau das führt dazu, dass wir oft reflexartig korrigieren – ungeachtet von Zeitpunkt, Kontext oder Absicht. Vielleicht reicht es manchmal, zuzuhören, sich den Moment zu merken – und ihn später aufzugreifen.
Wenn wir diesen Menschen keinen Raum lassen – weil sie sprachlich nicht präzise genug sind, weil sie nicht perfekt gendern, weil sie nicht wissen, was BIPoC bedeutet – dann schließen wir aus. Wir errichten eine neue Schwelle, und sie ist nicht weniger elitär als die alten.
Wir sollten Menschen wieder Chancen geben, sich zu entwickeln. Denn während wir uns in sprachlichen Feinheiten verlieren, formieren sich andere: lauter, einfacher, entschlossener. Die Rechten sind nicht präzise, nicht korrekt, nicht differenziert – aber sie sind viele. Und sie sind gefährlich. Wir brauchen jede Person, die auf unserer Seite stehen will. Auch die, die noch nicht vermeintlich perfekt spricht.
Lernen ist ein Weg
Lasst uns Räume schaffen, in denen Lernen möglich ist. In denen Menschen nicht alles wissen müssen, um dazugehören zu dürfen. In denen Fehler nicht sofort als Angriff gelesen werden – sondern als Teil eines Prozesses. Lasst uns korrigieren – ja, aber mit Bedacht. Und mit Blick auf das Ziel: eine gerechtere, solidarische Gesellschaft.
Es ist 2025. Ja, es gibt Dinge, die indiskutabel sind. Und wir müssen widersprechen, wenn diskriminierende Sprache oder Gewalt reproduziert werden. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen: Lernen ist ein Weg – und kein Auswahlverfahren. Und: Manchmal ist es schwierig, sich einzugestehen, dass man etwas (noch) nicht weiß oder Feedback anzunehmen. Aber: Wir können uns dieses Weiterentwickeln gegenseitig leichter machen.
Nicht jede Person, die einen Begriff nicht kennt, gehört der Gegenseite an. Manchmal braucht sie einfach nur jemanden, die*der sagt: „Ich sehe, du bemühst dich. Du bist willkommen.“
Lasst uns lieb zueinander sein.