Critical Mass – think global, act local – auch in Linz

Fahrradfahren als Durchbrechung motorisierter Hegemonie beschreibt Günther Ziehlinger

Die hegemoniale Stellung des Automobils im Verkehrswesen bringt viele bekannte Probleme mit sich (Stau, Schadstoffe, Platzverschwendung), doch scheint sie unumstößlich. Vor allem in Linz zeigt sich, dass die große Mehrheit keineswegs fähig oder gewillt ist, auf die geliebte mobile Heimatbox zu verzichten. Individuell und motorisiert, so bewegt sich der Mensch gerne fort, auch wenn dazu die zehnfache Menge seines Körpergewichts in Form von Stahl und Blech nötig ist.

Ein individuelles Verkehrsmittel ist auch das Fahrrad. Es wird allerdings eher als Sport- oder Freizeitgerät wahrgenommen, das sich lieber vom ernsten Straßenverkehr fernhalten sollte. Diejenigen, die das Fahrrad aber sehr wohl als „ernsthaftes“ Fortbewegungsmittel nutzen, sind auf den Straßen der Stadt weniger und schwächer als die Autos und dadurch wird der tägliche Weg mit dem Drahtesel durchaus zum Abenteuer und Selbstbehauptungskampf. Wenn doch mehr Leute mit dem Rad fahren würden, anstatt alleine in ihren motorisierten Vehikeln zu sitzen, mag sich so manche Radfahrerin denken, es müssten einfach viel mehr Radfahrerinnen auf der Straße sein, damit es weniger gefährlich wäre, damit die Stadt nicht unter so viel Lärm, Gestank und Blech leiden müsste. Diesen Wunsch nach einer gemütlichen Fahrradfahrt gemeinsam mit anderen Radfahrerinnen erfüllt in immer mehr Städten nun monatlich die Critical Mass.

Die Critical Mass ist eine Art Fahrrad Flashmob, oder wie es gerne propagiert wird, ein zufälliges Zusammenkommen von Radfahrerinnen. Mittlerweile gibt es diesen Zufall auf der ganzen Welt. Begonnen hat es aber 1992 in San Francisco. Dort trafen sich zum ersten Mal Radfahrerinnen unter diesem Motto zu einer gemeinsamen Stadtrundfahrt. Als Vorbild diente damals das „Radfahren am Freitag“ (RAF), das zuvor ein paar Mal in Wien stattgefunden hatte. Der Freitag ist geblieben. Einmal im Monat (meistens ist es der letzte Freitag) passiert nun weltweit dieser Zufall, dass Radfahrerinnen gemeinsam als Pulk die Straßen für sich in Anspruch nehmen. „Reclaim the streets!“ ist dabei eine Forderung, die mitschwingt.

Eine lange Liste von Städten lässt sich nennen, in denen dieser monatliche Zufall passiert. San Francisco, Vancouver, London, Berlin, Frankfurt, u.v.m. In New York waren es auch schon mal 4.000 Radfahrerinnen, die die Straßen für sich in Anspruch nahmen. Die größte Critical Mass weltweit findet in Budapest, dafür aber nur zwei Mal im Jahr statt. Sage und schreibe 80.000 Radfahrerinnen fanden dort schon einmal zusammen.

Linz hat sich die Critical Mass im Jahr 2007 eingefangen. Wie überall auf der Welt war es auch in der oberösterreichischen Landeshauptstadt zunächst eine Herausforderung für die Polizei, die Verteidigerin der Straßenverkehrsordnung, eine Copingstrategie für diese Form des Protests zu finden. Die erste Critical Mass verstörte die Exekutive massiv: Als auf die Frage, wer der Veranstalter sei, die Antwort kam, „Niemand, es sind so viele Autos da, die haben auch keinen Veranstalter“, platzte es aus der Polizeibeamtin heraus: „Ist das ihr Ernst?“ (Dokumentiert auf youtube). Mit vollkommenem Unverständnis wurde der zweiten CM-Ausfahrt im Mai 2007 begegnet. Der Pulk aus ungefähr 70 Radfahrerinnen wurde von mehreren Einsatzwagen an der Weiterfahrt gehindert. Die Personen, deren Daten willkürlich aufgenommen wurden, durften sich über eine Anzeige freuen, umso mehr aber über den erfolgreichen Einspruch dagegen.

Diese Anfangsschwierigkeiten sind lange vorbei und der monatliche Zufall geht bis heute munter weiter. Einmal mehr, einmal weniger Teilnehmerinnen zeigen jeden letzten Freitag im Monat die Vorzüge des Verkehrsmittels Fahrrad in der Stadt auf. Autofahrerinnen reagieren mittlerweile sogar schon manchmal mit Zuspruch auf die nun etwas stärkere Verkehrspartnerin. Die Critical Mass steht für eine angenehme Ausfahrt mit Botschaft, Musik und Spaß und freut sich immer über neue Fahrradbegeisterte. Eine besondere Attraktion sind sogenannte „tallbikes“, in der „bikekitchen“ selbstgebaute Riesenfahrräder, die auch in Linz bei dem hierarchiefreien Fahrradcorso mit dabei sind. Es ist erfreulich zu sehen, dass es abseits der abgöttischen Verherrlichung des Automobils seitens der Politik und des größten Teils der Bevölkerung hierzulande auch Menschen gibt, die sich ihrer globalen Verantwortung für ihr Verkehrsverhalten bewusst sind und dies mit einem weltumspannenden Zeichen ihrem lokalen Umfeld kundtun.

Nähere Infos unter www.criticalmass.at Kommende CM-Termine: 24.9., 29.10.2010

Günther Ziehlinger, Stadtsoziologe, Musiker, Radfahrer aus Linz

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